Blutmond - Wilsberg trifft Pia Petry - Kriminalroman
Cornfeld.
»Vielleicht ist uns die Polizei zuvorgekommen«, sagte ich ohne Überzeugung. Nach meinen Erfahrungen würde es etliche Stunden dauern, bis Stürzenbecher den Papierkram erledigt hatte. Und selbst wenn er den Durchsuchungsbeschluss unbürokratisch schnell bekommen haben sollte, müsste es hier noch von Bullen wimmeln.
Wir betraten das Grundstück. In großem Abstand von der Hausfront und so gut wie möglich hinter Büschen und Bäumen versteckt, umrundeten wir die Villa. Zum Glück hatte der Regen inzwischen nachgelassen. Auf der Terrasse an der Rückseite standen einige verwaiste Rattansessel.
»Bleiben Sie meinetwegen hier«, flüsterte Cornfeld. »Ich schaue mir das jetzt aus der Nähe an.«
Bevor ich etwas erwidern konnte, eilte er mit schnellen Schritten zur Terrasse. Und mir blieb nichts anderes übrig, als ihm zu folgen. Von einem Schnösel aus Hamburg wollte ich mich nicht zum Feigling stempeln lassen.
In der grünlich schimmernden, vermutlich schuss- und schlagfesten Glasfront spiegelte sich die hinter den Wolken auftauchende Sonne. Cornfeld stand ganz dicht vor der Scheibe und hatte seine Augen mit der Handfläche abgeschirmt.
»Kommen Sie her!«, rief er aufgeregt, als er mich hörte.
Ich tat es ihm gleich und spähte ins Innere. Unter dem Kronleuchter im Wohnzimmer lag ein umgestürzter Stuhl. Und an dem Kronleuchter hing ein Mann.
»Wer ist das?«, fragte Cornfeld.
»Jochen Averbeck.«
»Mein Gott! Hoffentlich ist Pia nichts passiert!«
Er trat einige Schritte zurück und schaute nach oben. In der ersten Etage war ein Fenster gekippt. Über dem Fenster befand sich ein Oberlicht.
»Denken Sie, Sie schaffen das?«, fragte ich.
»Klar. Wenn Sie mir helfen.«
Ich stellte eine Räuberleiter und er kletterte auf meine Schultern. Eine Glyzinie, deren verschlungene Äste an der Hausfront emporrankten, als Halt nutzend, gelangte er auf den schmalen Fenstersims. Jetzt musste er nur noch durch den Fensterspalt greifen, das Oberlicht öffnen und sich über die Fensterkante ins Innere schlängeln. Und Cornfeld stellte sich ziemlich geschickt an. In der Hinsicht war Pia wirklich zu beneiden. So einen jungen, gelenkigen Assistenten zu haben, war schon praktisch. Ob er ihr auch noch für andere Dinge zur Verfügung stand?
Eine Minute später öffnete Cornfeld die Terrassentür.
»Haben Sie etwas entdeckt?«, fragte ich.
»Das Haus scheint leer zu sein.«
Er schaute zu der Leiche. »Sollen wir ihn nicht abschneiden?«
»Nein. Averbeck ist tot. Wenn wir ihn runterholen, vernichten wir Spuren.«
Er runzelte die Stirn. »Bezweifeln Sie, dass es Selbstmord war?«
»Es sieht danach aus, ja. Aber genau wissen wir das nicht.«
Allerdings deutete nichts auf einen Kampf hin, alles war so aufgeräumt und ordentlich, wie man es bei Leuten erwarten konnte, die über das nötige Personal verfügten. Abgesehen von dem Blatt Büttenpapier, das auf dem Wohnzimmertisch lag. Dabei handelte es sich vermutlich um den Abschiedsbrief.
»Schauen Sie sich mal im Haus um!«, sagte ich zu Cornfeld. »Vielleicht finden Sie ja einen Hinweis, wo Pia sein könnte. Aber nehmen Sie ein Taschentuch, wenn Sie etwas anfassen.«
Er zögerte. »Wollen wir nicht die Polizei anrufen?«
»Ja, das mache ich gleich.«
Er traute mir immer noch nicht, aber das war mir egal. Nachdem Cornfeld den Raum verlassen hatte, ging ich zum Wohnzimmertisch. Die Handschrift auf dem Papier war krakelig:
Geliebte Renate,
ich hoffe, du verzeihst mir. Ich selbst war es, der dich verletzt hat, und ich trage auch die Schuld am Tod von Tanja Brockhoff, weil ich verhindern wollte, dass sie dir alles erzählt. Ich kann dir nicht sagen, wie sehr ich bedauere, was ich getan habe. Ich allein trage die Verantwortung dafür, dass anderen Menschen Leid zugefügt wurde. Es wäre nur eine Frage der Zeit gewesen, bis die Polizei mich verhaftet hätte. Ich sehe keinen Ausweg mehr. Deshalb habe ich mich entschlossen, meinem Leben ein Ende zu setzen.
Jochen Averbeck
Ich holte mein Handy aus der Tasche und wählte die Nummer von Stürzenbecher.
»Rufst du wegen Averbeck an?«, fragte der Hauptkommissar.
»Ja.«
»Du nervst, Wilsberg. Was denkst du, wie lange es dauert, bis ein Richter einen Durchsuchungsbeschluss unterschreibt? Aber jetzt liegt er hier vor mir. In einer Stunde bin ich mit zehn Leuten bei Averbeck.«
»Den Durchsuchungsbeschluss brauchst du nicht mehr«, sagte ich.
»Wieso?«
»Weil Averbeck tot ist.«
29
Pia Petry
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