Blutmond - Wilsberg trifft Pia Petry - Kriminalroman
allein in einem fremden Haus
Ich stehe auf der Straße. Ohne Handtasche. Und damit ohne Geld, ohne Handy, ohne Schlüssel. So hilf- und schutzlos wie ein frisch geschlüpftes Küken. Mir bleibt nichts anderes übrig, als ein junges Mädchen, das mir auf dem Gehweg entgegenkommt, um sein Handy zu bitten. Ich versuche, Wilsberg zu erreichen. Er meldet sich nicht. Dreimal lasse ich es so lange klingeln, bis sich seine Mailbox einschaltet. Dann gebe ich es auf. Bei Renate versuche ich es erst gar nicht. Ich habe keine Lust, von ihrer Freundin Sylvie aufgesammelt zu werden und womöglich die Nacht in deren adrettem Reihenhäuschen zu verbringen. Bleibt Dracu.
Diesmal habe ich Glück. Auf die Schilderung meines Rauswurfs reagiert er mit zwei Wörtern: »Ich komme.«
Keine zehn Minuten später hält ein schwarzer Ford Thunderbird mit quietschenden Reifen neben mir. Die dunkel getönte Scheibe gleitet nach unten und Dracus Gesicht taucht auf.
»Junge Frau«, sagt er, »was kostet's denn?«
Ich lasse mich neben ihn auf den Beifahrersitz fallen. »Junger Mann«, antworte ich, »ich bin nicht käuflich.«
Dracu setzt den Blinker und das Auto schießt zurück auf die Straße. »Aber bestechlich!«
»Auch das nicht«, antworte ich und sehe mich in seinem US-Oldtimer um. »Was ist denn aus deinem Opel Astra geworden?«
»Das war ein Leihwagen. Mein Thunderbird ist zwar wunderschön, aber leider nicht immer zuverlässig. Manchmal lässt er mich im Stich.«
»Das ist ja eine unglaubliche Machokiste«, sage ich und fahre mit den Fingerspitzen über das schwarze Armaturenbrett.
Er schnalzt mit der Zunge. »Das richtige Auto für einen richtigen Sadisten.«
Auch sein Fahrstil ist der eines richtigen Sadisten und ausgesprochen gewöhnungsbedürftig. Er überholt so ziemlich jeden Wagen, der ihm auch nur die allerkleinste Chance dazu lässt. Den Fuß nimmt er selten vom Gaspedal, und wenn, dann nur, um hart und abrupt zu bremsen. Dabei beweist er immerhin so viel fahrerisches Können, dass ich zwar um meine Wirbelsäule, nicht aber um mein Leben fürchte.
»Kannst du mich zurück ins Hotel bringen?«, frage ich, nachdem ich mich vom ersten Schreck erholt habe.
»Hast du nicht gesagt, deine Sachen sind alle bei Jochen im Haus und er lässt dich nicht mehr rein?«
»Ja sicher. Aber irgendwo muss ich ja übernachten.«
»Wie willst du das Zimmer denn bezahlen?«
»Mir fällt schon was ein.«
»Was ist überhaupt mit Renate?«, fragt er. »Kann die dir nicht helfen?«
»Die ist bei einer Freundin untergekrochen.«
»Bei einer Freundin?«
»Nun ja«, sage ich. »Es hat eine kleine eheliche Auseinandersetzung gegeben. Ziemlich unschön.«
»Was heißt ›unschön‹?«, fragt er scharf.
»Also, Jochen hat Renate eine gelangt. Ich hoffe, ihre Nase ist nicht gebrochen ...«
Dracu bremst so scharf, dass ich fast durch die Windschutzscheibe fliege.
»Dieses gottverdammte Arschloch!«
»Es geht ihr schon wieder ganz gut«, versuche ich, ihn zu beruhigen.
Hinter uns fangen die ersten Autos an zu hupen.
»Ich glaube, wir sollten weiterfahren.«
Dracu wirft einen Blick in den Rückspiegel und gibt Gas. Er schüttelt den Kopf. »Dieser Kerl ist hochgradig gefährlich. Völlig unberechenbar. Ein Irrer.«
»Das denke ich langsam auch«, sage ich. »Er behauptet tatsächlich, dass ihn jemand aus der Firma rausmobben und ihm Renate wegnehmen will. Er verrennt sich in völlig verblödete Verschwörungstheorien. Keiner hat ihn lieb und alle sind gegen ihn.«
»Verdächtigt er jemanden?«, fragt Dracu. »Hat er Namen genannt?«
Ich bin kurz davor, Dracu von diesem ominösen Halbbruder zu erzählen. Vielleicht weiß er ja etwas über ihn. Doch dann lasse ich es lieber. In meinem Job sollte man besser zuhören und das Reden den anderen überlassen.
»Nein«, sage ich. »Nein, nein. Hat er nicht.«
Dracu sieht mich kurz von der Seite an, dann starrt er mit finsterer Miene auf die Straße. Er fährt noch aggressiver als zuvor. Soweit das überhaupt möglich ist.
»Ich habe eine Idee«, sagt er nach einer Weile. »Was hältst du von einem leckeren Abendessen. Bei mir zu Hause. Ich habe sturmfreie Bude. Wir wären ganz unter uns ...«
»Sturmfreie Bude?«, frage ich. »Hast du eine Freundin?«
Er lacht. »Nein. Zurzeit wohnt ein Freund bei mir. Vorübergehend. Aber heute Abend ist er nicht da. Er arbeitet.«
»Ich weiß nicht ...«
»Und ich verspreche dir, ich mache dir das beste Steak, das du je gegessen
Weitere Kostenlose Bücher