Blutmusik
Vakuum
herrschte. Alle elektrischen Leitungen und mechanischen Systeme, die
durch die Tanks verlaufen mußten, waren ummantelt und steckten
in Desinfektionslösungen. Luft und Abfallmaterialien, die den
Laborbereich verließen, wurden durch Hitze sterilisiert und
verbrannt; alle dem Labor entnommenen Proben wurden in einem
benachbarten Raum unter den gleichen Sicherheitsvorkehrungen
verarbeitet oder weiterbehandelt. Bis das Problem gelöst oder er
tot wäre, würde er von nun an nichts von Bernards
Körper mit einem anderen Lebewesen außerhalb der Kammer in
Berührung kommen.
Die Wände waren von einem neutralen Hellgrau; in Decke und
Seitenwände eingelassene und verkleidete Leuchtstoffröhren
verbreiteten Licht. Es konnte sowohl von innen wie auch von
außen ein- und ausgeschaltet werden. Der Boden war schwarz
gefliest. In der Mitte des Raums – deutlich sichtbar vom
benachbarten Besucherraum – stand ein gewöhnlicher
Schreibtisch mit einem Sessel, und auf dem Schreibtisch ein
Datenanschluß mit Videoeinrichtung. Ein einfaches, aber bequem
aussehendes Feldbett ohne Laken erwartete ihn in einer Ecke. Neben
einer Klappe aus rostfreiem Stahl stand eine Stahlkommode. Ein
großes, rechteckiges Feld in einer Wand markierte eine Luke
für größere Gegenstände. Die Einrichtung wurde
vervollständigt von einem Sessel und einer Duschkabine mit
Plastikvorhang, die aussah, als sei sie in einem Stück aus einem
Flugzeug oder einem Campingwagen ausgebaut worden.
Er nahm Hemd und Hose, die auf dem Feldbett für ihn
bereitlagen, und befühlte das Material mit Daumen und
Zeigefinger. Von nun an würde es keine Zurückgezogenheit
geben. Er war keine Privatperson mehr. Bald würde man ihn
untersuchen, Proben entnehmen, Hirnströme messen und ihn ganz
allgemein wie ein Versuchskaninchen behandeln.
Gut so, dachte er, als er sich auf dem Feldbett ausstreckte. Ich
verdiene es. Was immer jetzt geschieht, es geschieht mir recht. Mea culpa.
Bernard entspannte sich und schloß die Augen.
Sein Pulsschlag sang ihm in den Ohren.
METAPHASE
November
20
Brooklyn Heights
»Mutter? Howard?« Suzy McKenzie wickelte sich in den
himmelblauen Frotteebademantel, den ihr Freund ihr im vergangenen
Monat zu ihrem achtzehnten Geburtstag geschenkt hatte, und tappte
barfuß durch den Korridor. Ihre Augen waren vom Schlaf
verschwollen. »Ken?« Gewöhnlich wachte sie als letzte
auf. »Faule Suzy« nannte sie sich oft selbst, mit einem
heimlichen, wissenden Lächeln.
Sie hatte keine Uhren in ihrem Zimmer, aber die Sonne
draußen stand hoch genug, daß es zehn Uhr vorbei sein
mußte. Die Schlafzimmertüren waren geschlossen.
»Mutter?« Sie klopfte an die Tür des Schlafzimmers
ihrer Mutter. Keine Antwort.
Sicherlich würde einer ihrer Brüder auf sein.
»Kenneth? Howard?« Sie machte mitten im Korridor kehrt,
daß die Holzdielen des Bodens knarrten. Dann ergriff sie die
Klinke und stieß die Tür zum Zimmer ihrer Mutter auf.
»Mutter?« Das Bett war ungemacht; Decke und Laken waren am
Fußende verknäuelt. Alle mußten unten sein. Sie ging
ins Badezimmer, wusch sich das Gesicht, inspizierte die Haut ihrer
Wangen nach neuen Pickeln, war erleichtert, keine zu finden, und ging
die Treppe hinunter in die Diele. Sie hörte nicht ein
Geräusch.
»He«, rief sie beim Betreten des Wohnzimmers, verwirrt
und unglücklich. »Kein Mensch hat mich geweckt. Ich werde
zu spät zu Arbeit kommen.« Seit drei Wochen arbeitete sie
in einem Lebensmittelgeschäft in der Nachbarschaft. Die Arbeit
machte ihr Freude – sie war viel interessanter und realer als
die Arbeit im Sparsamkeitsladen der Heilsarmee –, und es half
ihrer Mutter finanziell. Ihre Mutter hatte vor drei Monaten den
Arbeitsplatz verloren und lebte von den unregelmäßig
eintreffenden Schecks, die Suzies Vater schickte, sowie von ihren
rasch zusammenschmelzenden Ersparnissen. Sie warf einen Blick zur
Schiffsuhr auf dem Tisch und schüttelte den Kopf. Halb elf; sie
hatte sich tatsächlich verspätet. Aber das beunruhigte sie
nicht so sehr wie die Überlegung, wo die anderen alle sein
mochten. Es gab manchen Streit, gewiß, aber sie waren eine
Familie, die zusammenhielt – mit Ausnahme ihres Vaters, den sie
kaum noch vermißte, nicht sehr, jedenfalls –, und es
würden nicht einfach alle fortgehen, ohne ihr etwas zu sagen,
ohne sie zu wecken.
Sie stieß die Pendeltür zur Küche auf und trat
halb durch. Was sie sah, entzog sich zuerst ihrer bewußten
Wahrnehmung: drei
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