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Blutmusik

Blutmusik

Titel: Blutmusik Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Greg Bear
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wissen, was zu tun ist.« Sie ging wieder nach Hause
und nahm den Telefonhörer auf. Sie begann, alle Nummern zu
wählen, die sie kannte. In einigen Fällen kam sie durch und
hörte das Rufzeichen; in anderen gab es nur Stille oder seltsame
Computergeräusche. Niemand meldete sich, ganz gleich, welche
Nummer sie wählte. Sie versuchte es noch einmal bei ihrem
Freund, Cary Smyslow, und hörte das Rufzeichen, acht-, neun-,
zehnmal, bevor sie auflegte. Sie wartete etwas, überlegte, und
wählte dann die Nummer ihrer Tante in Vermont.
    Diesmal hatte sie beim dritten Läuten Glück.
»Hallo?« Die Stimme klang schwach und zittrig, aber es war
unzweifelhaft ihre Tante.
    »Tante Dawn, hier ist Suzy in Brooklyn. Ich bin hier in
großen Schwierigkeiten…«
    »Suzy?« sagte die Stimme. Es schien eine Weile zu
dauern, bis der Name ihrer Tante etwas sagte.
    »Ja, du weißt doch, Suzy. Suzy McKenzie.«
    »Kindchen, ich höre nicht allzu gut.« Tante Dawn
war einunddreißig Jahre alt, keine hinfällige alte Frau,
aber sie hörte sich ganz und gar nicht gesund an.
    »Mama ist krank, vielleicht ist sie tot. Ich weiß es
nicht, und Kenneth und Howard, und niemand ist da, oder alle sind
krank, ich weiß nicht…«
    »Ich leide auch irgendwie unter dem Wetter«, sagte Tante
Dawn. »Hab diese Beulen. Dein Onkel ist fort, oder vielleicht
ist er draußen in der Garage. Jedenfalls ist er
seit…« Sie hielt inne. »Seit gestern abend nicht ins
Haus gekommen. Er ging hinaus und redete mit sich selbst. Noch nicht
zurück. Kindchen…«
    »Was geht vor?« fragte Suzy mit überschnappender
Stimme.
    »Kind, ich weiß es nicht, aber ich kann nicht mehr
reden. Ich glaube, ich werde verrückt. Leb wohl, Suzy.« Und
dann, so unglaublich es schien, legte sie auf. Suzy versuchte sie
noch einmal zu erreichen, bekam aber keine Antwort. Und
schließlich, bei ihrem dritten Versuch, nicht einmal ein
Rufsignal.
    Sie war im Begriff, das Telefonbuch aufzuschlagen und auf gut
Glück Anrufe zu machen, besann sich aber eines Besseren und
kehrte in die Küche zurück. Vielleicht konnte sie etwas tun
– sie kühlhalten, oder warm, oder ihnen bringen, was an
Medizin im Haus war.
    Ihre Mutter sah dünner aus. Die Schwielen im Gesicht und auf
den Armen schienen in sich zusammengesunken zu sein. Suzy streckte
die Hand aus, das Gesicht der Mutter zu berühren, zögerte,
zwang sich dann dazu. Die Haut fühlte sich warm und trocken an,
nicht fiebrig, normal genug für ihr Aussehen. Ihre Mutter schlug
die Augen auf.
    »Ach, Mutter«, schluchzte Suzy. »Was ist
geschehen?«
    »Nun«, sagte ihre Mutter und befeuchtete sich die Lippen
mit der Zunge, »eigentlich ist es ganz schön. Dir fehlt
nichts, nicht wahr? Oh, Suzy.« Und dann schloß sie die
Augen und sagte nichts mehr. Suzy wandte sich zu Howard, der auf dem
Stuhl saß. Sie berührte ihn am Arm und schrak zurück,
als die Haut Luft abzulassen schien. Dann erst bemerkte sie das
Geflecht wurzelartiger Röhren, das aus seinen Jeans kam und in
dem Spalt zwischen Küchenwand und Boden verschwand.
    Weitere Wurzeln erstreckten sich von Kenneths teigfarbenen Armen
in die Speisekammer. Und hinter ihrer Mutter, unter dem Rocksaum
herauswachsend und in den Schrank unter der Spüle reichend, war
ein einziges dickes Rohr aus bleichem Fleisch. Suzy dachte im ersten
Augenblick an Horrorfilme und Make-up, und daß sie vielleicht
einen Film drehten und ihr nichts gesagt hatten. Sie beugte sich
näher und spähte hinter ihre Mutter. Sie war keine
Expertin, aber das Rohr aus Fleisch war nicht Make-up. Sie konnte
Blut darin pulsieren sehen.
    Langsam stieg Suzy wieder die Treppe zu ihrem Zimmer hinauf. Sie
setzte sich aufs Bett, knüpfte ihr langes blondes Haar zu einem
Zopf und löste ihn wieder auf, dann legte sie sich hin und
blickte zu dem sehr alten silbrigen Linoleum an der Decke auf.
»Lieber Gott, bitte komm und hilf mir, denn ich brauche dich
jetzt«, betete sie. »Lieber Gott, bitte komm und hilf mir,
denn ich brauche dich jetzt!«
    Und so weiter, bis in den Nachmittag hinein, als der Durst sie ins
Badezimmer trieb, etwas zu trinken. Während sie das Wasser
schluckte, wiederholte sie ihr Gebet, bis die Einförmigkeit und
Vergeblichkeit sie schließlich verstummen ließen. Sie
stand am Treppengeländer, noch immer in ihrem himmelblauen
Bademantel und begann, Pläne zu schmieden. Sie war nicht krank
– noch nicht –, und sie war ganz gewiß nicht tot.
    Also mußte etwas geschehen, mußte sie etwas
unternehmen.
    Und doch

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