Blutmusik
Schlußfolgerung
gezogen.
»Genau«, sagte April. »Also, meine Herren, werden
wir morgen zurückfahren, und wenn Sie wollen, können Sie
sich mir anschließen, aber ich werde, wenn nötig, allein
gehen und mich meinem Sohn anschließen.«
Jerry ernüchterte sich. »Aber das ist wirklich
verrückt! Angenommen, dieses Ding oder diese Erscheinung ist
etwas wahrhaft Gefährliches, wie ein schweres Gewitter, oder ein
durchgeschmolzener Atomreaktor?«
»In Los Angeles gibt es keine Atomkraftwerke«, sagte
John. »Aber Jerry hat recht. Es ist einfach verrückt, in
diese Hölle hineinzugehen oder auch nur daran zu
denken!«
»Wenn mein Sohn dort ist, wird es mir nicht schaden«,
sagte April.
Jerry stocherte energisch im Feuer. »Ich werde Sie
hinfahren«, sagte er, »aber ich werde nicht mit Ihnen
hineingehen.«
John bedachte seinen Bruder mit einem scharfen und kritischen
Blick. »Ihr seid beide übergeschnappt!«
»Ich kann auch zu Fuß gehen«, sagte April
entschlossen.
John starrte, die Hände in die Hüften gestemmt, grollend
seinem Bruder und April Ulam nach, die zum Lastwagen gingen.
Süßlicher purpurrosa Nebel stieg aus dem Becken von Los
Angeles und zog in Baumwipfelhöhe über Fort Tejon hinweg,
trübte den Schein der Morgensonne und ließ alles
schattenlos und geisterhaft erscheinen.
Erst als die beiden einstiegen und Jerry den Motor startete,
setzte John sich in Bewegung. »He!« rief er. »Verdammt
noch mal, he! Laßt mich nicht einfach hier!«
Die verlassene Fernstraße zog sich in weiten Kurven
über die Höhen, und sie blickten hinab in den Strudel. Bei
Tageslicht sah es kaum anders aus als am Abend zuvor.
»Es ist wie alles, was du je geträumt hast, alles
zusammengerollt und durcheinandergeschoben«, sagte Jerry.
»Keine schlechte Beschreibung«, erwiderte April.
»Ein Wirbel von Träumen. Vielleicht den Träumen aller
Menschen, die von der Veränderung erfaßt wurden.«
John hatte beide Hände am Armaturenbrett und starrte mit
aufgerissenen Augen die Straße hinunter. »Es sind noch
knapp zwei Kilometer Straße übrig«, sagte er.
»Dann müssen wir halten.«
Jerry stimmte mit kurzem Nicken zu und verlangsamte. Mit weniger
als fünfzehn Stundenkilometern näherten sie sich einem
Vorhang tanzender, vertikaler Nebelstreifen. Dieser Vorhang erreichte
über der Straße und zu beiden Seiten eine Höhe von
annähernd fünfzehn Metern und umhüllte undeutlich
sichtbare, orangefarbene Umrisse, die einmal Gebäude gewesen
sein mochten.
»Herr Jesus«, sagte John.
»Halt!« befahl April, und Jerry brachte den Lastwagen
zum Stillstand. Die Frau schaute John mit strengem Blick an, bis er
die Tür öffnete und ausstieg, um sie hinauszulassen. Jerry
schaltete den Leerlauf ein und zog die Bremse an, dann stieg er auf
der anderen Seite aus.
»Sie vermissen Angehörige, nicht wahr, meine
Herren?« sagte April und strich ihr zerrissenes Seidengewand
glatt. Der Strudel brüllte wie ein ferner Tornado –
brüllte und zischte und dröhnte.
John und Jerry nickten.
»Wenn mein Vergil hier drin ist, und ich weiß es, dann
müssen sie auch dort sein. Oder wir können sie von hier
erreichen.«
»Das ist verrückt«, sagte John. »Meine Frau
und mein Junge können nicht dort drin sein.«
»Warum nicht? Sind sie tot?«
John starrte sie an.
»Sie wissen, daß sie nicht tot sind. Ich weiß,
daß mein Sohn nicht tot ist.«
»Sie sind eine Hexe«, sagte Jerry, weniger anklagend als
bewundernd.
»Sie sind nicht der erste, der das sagt. Vergils Vater sagte
es, bevor er mich verließ. Aber Sie wissen es, nicht
wahr?«
John begann zu zittern. Tränen rannen ihm über die
Wangen. Jerry starrte mit einem ungewissen Grinsen auf den wogenden
Vorhang.
»Na, John, sind sie da drin?« fragte er seinen
Bruder.
»Ich weiß nicht«, antwortete John. Er schnupfte
und wischte sich das Gesicht mit dem Ärmel.
April ging ein paar Schritte auf den Vorhang zu. »Danke
für Ihre Hilfe, meine Herren«, sagte sie, dann ging sie
weiter. Als sie in den Vorhang trat, verzerrten sich ihre Umrisse wie
in einer Bildstörung im Fernsehen, und dann verschwand sie.
»Sieh dir das an!« sagte John. Sein Zittern
verstärkte sich.
»Sie hat recht«, sagte Jerry. »Spürst du es
nicht?«
»Ich weiß es nicht!« heulte John.
»Großer Gott, Bruder, ich weiß es nicht.«
»Laß uns gehen und sie suchen!« sagte Jerry und
nahm den Zwillingsbruder bei der Hand. Er zog ihn behutsam, aber John
widerstrebte.
Jerry zog wieder, etwas
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