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Blutmusik

Blutmusik

Titel: Blutmusik Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Greg Bear
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energischer.
    »Einverstanden«, sagte John leise.
»Zusammen.«
    Seite an Seite gingen sie die wenigen Schritte die Straße
entlang und in den Vorhang.

 
36
     
    Im zweiundachtzigsten Stockwerk setzte der Muskelkrampf in ihrem
Oberschenkel mit solch jäher Heftigkeit wieder ein, daß
sie strauchelte, mit dem Kopf gegen das Treppengeländer schlug
und auf die Stufen fiel. Ihre Kniescheibe prallte schmerzhaft auf
eine Stufenkante, Taschenlampe und Radio flogen aus ihren Händen
auf den betonierten Treppenabsatz. Die Wasserflasche platzte auf,
bespritzte sie und ergoß den Inhalt über die Stufen,
während Suzy, gelähmt vom Schmerz, hilflos zusah. Es schien
Stunden zu dauern – waren aber wahrscheinlich nur Minuten
–, bis sie sich zum Treppenabsatz hinaufziehen, auf den
Rücken legen und die Beinmuskeln entspannen konnte. Während
sie mit beiden Händen das Bein massierte, schloß sie die
Augen. Es fühlte sich an, als hätte sie Sand darin, so sehr
wünschte sie zu weinen, aber sie hatte keine Tränen
mehr.
    Eine Beule an der Stirn, ein Bein, das bei jeder neuerlichen
Anstrengung schmerzte, wenig Nahrung und kein Wasser, und
dreißig Stockwerke waren noch zu steigen. Das Licht der
Taschenlampe flackerte und ging aus, ließ sie in vollkommener
Dunkelheit. »Scheiße«, sagte sie. Ihre Mutter hatte
den Gebrauch dieses Wortes noch mehr beklagt als die Anrufung des
Namens Gottes ohne Notwendigkeit. Da sie keine sonderlich
religiöse Familie waren, galt dies als eine geringere
Übertretung, abstoßend nur in Gegenwart jener, die es
beleidigen würde. Aber »Scheiße« zu sagen, war
das letzte. Eine Anerkennung schlechter Manieren und schlechter
Erziehung, oder einfach eine disziplinlose Kapitulation vor den
niedrigsten Regungen.
    Suzy versuchte, aufzustehen und sank wieder zu Boden. Ein
stechender Schmerz war ihr durchs Knie gefahren. »Oh, oh«,
stöhnte sie. »Werde besser, bitte, werde besser!« Sie
versuchte, das Knie zu massieren, wie sie es zuvor mit den
Beinmuskeln getan hatte, aber das machte den Schmerz nur
schlimmer.
    Sie tastete nach der Taschenlampe und fand sie. Nach kurzem
Schütteln ging das Licht wieder an, und sie leuchtete umher und
vergewisserte sich, daß die braunen und weißlichen Fasern
und Laken sie nicht überholt hatten. Sie blickte
abschätzend zur Tür des dreiundachtzigsten Stockwerks und
erkannte, daß sie einstweilen nicht in der Lage sein
würde, Treppen zu steigen, vielleicht den Rest des Tages nicht
mehr. Sie kroch zur Tür und blickte über die Schulter zum
Radio, als sie die Hand zur Klinke ausstreckte. Das Radio lag auf dem
Treppenabsatz; es war hart aufgeprallt, als sie gestrauchelt war.
Einen Augenblick lang dachte sie, daß sie es gerade so gut
aufgeben könne, aber das Radio hatte eine besondere Bedeutung
für sie: es war das einzige Bindeglied zur menschlichen
Vergangenheit, die sie verloren hatte, das einzige Ding, das zu ihr
sprach. Vielleicht würde sie irgendwo in dem Gebäude ein
anderes finden, aber gewiß war das nicht, und sie glaubte, die
Stille nicht ertragen zu können. Bemüht, das schmerzende
Bein geradezuhalten, kroch sie zurück, das Radio zu holen.
    Durch die schwere feuersichere Tür zu kommen, war mit mehr
und neuen Schmerzen verbunden, als sie ihr im Zufallen den Arm
einklemmte, aber schließlich streckte sie sich auf dem
Teppichboden vor den Aufzügen aus und blickte zur
schallschluckenden Decke auf. Dann wälzte sie sich auf den
Bauch, lauschte aufmerksam, ob sich irgendwo etwas regte.
    Stille, völlige Ruhe.
    Langsam, bemüht, ihre Kräfte zu schonen, kroch sie aus
dem Vorraum und um eine Ecke.
    Hinter einer Glaswand lag ein großer Raum voller
Zeichentische. Weiß emaillierte Beine auf beigefarbenem
Teppichboden, schwarze Arbeitslampen mit verstellbaren Armen, die wie
Krähen auf ihren Stangen saßen. Die Glastür stand
angelehnt; ein Gummikeil hinderte sie am Schließen. Suzy
hoppelte am Vorzimmer vorüber, bis sie den nächstbesten
Tisch erreichte, auf den sie sich stützen konnte, die Augen
glänzend von Erschöpfung und Schmerz. Auf dem Zeichentisch
neben ihr lagen Blaupausen. Sie war in den Räumen eines
Architekturbüros. Sie schaute eine der Zeichnungen genauer an
und sah, daß sie einen Decksplan für ein Schiff
darstellte. Also war es ein Konstruktionsbüro für Schiffe.
Nun, ihr konnte es gleich sein.
    Sie setzte sich auf einen Drehstuhl, dessen Gleitrollen blockiert
waren. Mit einem Fuß bemühte sie sich eine halbe Minute
lang, die

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