Blutnacht
»Zweiunddreißig, geschieden, malte in Öl. Wie man so sagt.«
»Wer sagt so?«
»Typen aus der Kunstszene. So reden die. Maler malen in Öl, Bildhauer arbeiten in Bronze, Grafiker in Kaltnadelradierung. Gemälde sind ›Bilder‹, man ›macht‹ Kunst, bla bla bla. Zu Julie Kipper: Offensichtlich war sie begabt, hat einen Haufen Preise am College gewonnen, hat an der Rhode Island School of Design den Magister gemacht und bald nach ihrem Abschluss die Aufmerksamkeit von New Yorker Galerien auf sich gezogen. Sie hat ein paar Bilder verkauft, schien Fortschritte zu machen, dann verschärfte sich die Situation, und sie bekam finanzielle Probleme. Sie ist vor sieben Jahren hierher gezogen und hat für Werbeagenturen kommerzielle Illustrationen gemacht, um ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Vor einem Jahr hat sie sich wieder ernsthaft der Malerei zugewandt, eine Galerie gefunden, die sie vertritt, und recht erfolgreich an zwei Gruppenausstellungen teilgenommen. Am vergangenen Samstag war ihre erste Einzelausstellung, seit sie New York verlassen hat.«
»Welche Galerie?«
»Ein Laden namens Light and Space. Es ist eine Kooperative, gegründet durch eine Gruppe von Künstlern, die ihn hauptsächlich dazu benutzen, ihre eigenen Sachen auszustellen. Aber sie unterstützen auch Künstler mit unverkennbarem Talent, wie sie es nennen, und Julie Kipper wurde von ihrem Prüfüngskomitee dieser Gruppe zugeordnet. Ich habe den Eindruck, als lebten diese Leute nicht von ihrer Kunst. Die meisten von ihnen arbeiten tagsüber. Julie musste für ihre eigene Party bezahlen – Käse und Kräcker und billiger Wein, ein Jazztrio. Rund fünfzig Leute sind während des Abends da gewesen, und sechs der fünfzehn Bilder hatten rote Punkte bekommen – das bedeutet ›verkauft‹ in der Kunstszene. Sie machen tatsächlich rote Pünktchen auf das kleine Schild an der Wand.«
»Hat einer der Künstler deine Antenne zum Vibrieren gebracht?«
»Sie wirken alle so, als könnten sie niemandem auch nur ein Haar krümmen, haben nur Gutes über Julie zu sagen, aber wer weiß?«
Julie. Er nannte das Opfer bereits jetzt bei seinem Vornamen. Irgendetwas verband ihn eindeutig mit ihr. Ich fragte: »Was ist passiert?«
»Jemand hat ihr auf der Damentoilette der Galerie aufgelauert. Nach der Party. Ein kleines Kabuff – nur ein Waschbecken, eine Toilette und ein Spiegel. Sie hatte eine Beule am Hinterkopf – der Gerichtsmediziner sagt, sie habe wahrscheinlich nicht das Bewusstsein verloren, aber die Haut war aufgeplatzt, und auf dem Waschbeckenrand hat man Blutspuren von ihr gefunden. Der Gerichtsmediziner vermutet, dass sie um sich geschlagen hat und mit dem Kopf dagegen geknallt ist.«
»Blutspuren von jemand anderem?«
»Das wäre zu schön, um wahr zu sein.«
»Ein Kampf«, sagte ich. »Wie groß war sie?«
»Klein«, sagte er. »Eins dreiundsechzig, fünfzig Kilo.«
»Hautreste unter ihren Fingernägeln?«
»Nicht ein Molekül, aber wir haben etwas Talkumpuder gefunden. Wie man ihn als Gleitmittel in Gummihandschuhen verwendet.«
»Falls es sich darum handelt«, sagte ich, »bedeutet das sorgfältige Vorbereitung. Wie lange nach der Vernissage ist es passiert?«
»Die Ausstellung war um zehn zu Ende, und Julie ist noch dageblieben, um aufzuräumen. Eine der Künstlerinnen hat ihr geholfen, eine Frau namens CoCo Barnes. Die in meinen Augen als Verdächtige nicht in Frage kommt, weil sie erstens Mitte siebzig und zweitens nicht größer als ein Gartenzwerg ist. Kurz nach elf ist sie nach hinten gegangen, um nachzusehen, und hat Julie gefunden.«
»Ist sie auch noch schwerhörig?«, fragte ich. »Wenn sie nichts von dem Kampf mitbekommen hat?«
»Das ist nicht schwer zu erklären. Die Galerie ist ein großer Raum an der Vorderseite, und die Toiletten liegen auf der Rückseite, hinter einer massiven Tür, durch die man in eine kleine Diele und einen Lagerraum mit einer Hintertür auf eine schmale Gasse kommt. Und die Klotür ist ebenfalls massiv. Hinzu kommt die Musik. Nicht die Jazzband, die hatte bereits zusammengepackt und war verschwunden. Aber Julie hatte ihre Stereoanlage und ein paar Kassetten mitgebracht, für den Fall, dass die Band mal Pause machte. Sie hatte die Musik angemacht, während sie den Laden wieder auf Vordermann brachten. Dass Barnes nichts gehört hat, ist völlig einleuchtend.«
Die lächelnde Frau brachte flache, runde Edelstahltabletts, auf denen viele kleine Teller standen, die wie Untertassen aussahen.
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