Blutnacht
sprang sie zurück, verlor das Gleichgewicht und wäre fast hingefallen. Sie hatte solche Angst. Ich hab gesagt: »Wenn Sie hier warten, bringe ich Ihnen was zu essen raus.‹ Aber sie hob die Hand an den Mund, kaute auf den Fingerknöcheln und rannte weg. Das tun sie oft, wissen Sie? Essen ablehnen. Einige von ihnen reagieren sogar richtig feindselig, wenn man ihnen zu helfen versucht. Sie hören Stimmen in ihrem Kopf, die ihnen alles Mögliche erzählen. Kann man es ihnen zum Vorwurf machen, dass sie einem nicht vertrauen?« Sie kraulte den Hund noch ein bisschen. »Wahrscheinlich hat es nichts zu sagen, aber wenn man bedenkt, was mit Julie passiert ist, können wir wohl nicht gründlich genug sein.«
»Nein, das können wir nicht, Ma’am. Was können Sie mir sonst noch über diese Frau erzählen?«, fragte Milo.
Die Augen der alten Frau funkelten. »Also glauben Sie, dass es wichtig ist?«
»Im gegenwärtigen Stadium ist alles wichtig. Es war richtig, dass Sie mir davon erzählt haben.«
»Nun ja, das ist gut zu wissen. Weil ich es Ihnen fast nicht erzählt hätte, da es sich um eine Frau handelte und ich davon ausgegangen war, dass es ein Mann war, der Julie getötet hat – danach zu urteilen, wie sie …« Die alte Frau kniff die Augen fest zu und schlug sie mit flatternden Lidern wieder auf. »Ich versuche immer noch, diesen Anblick loszuwerden … Nicht dass diese Frau Julie nicht hätte überwältigen können. Sie war groß – mindestens eins achtzig. Und kräftig gebaut. Obwohl es bei all den Sachen, die sie anhatte, eigentlich schwer einzuschätzen ist. Und wir standen uns nur eine Sekunde von Angesicht zu Angesicht gegenüber.«
»Große Knochen«, sagte Milo.
»Stämmig – fast maskulin.«
»Könnte es ein Mann gewesen sein, der sich als Frau verkleidet –«
Barnes lachte. »Nein, nein, die hier war eindeutig eine Frau. Aber eine große Frau. Viel größer als Julie. Was mich nachdenklich stimmt. Es muss überhaupt kein Mann gewesen sein, nicht wahr? Besonders wenn wir es mit jemandem zu tun haben, der nicht ganz richtig im Kopf ist.«
Milo hatte den Notizblock gezückt. »Wie alt war sie Ihrer Meinung nach?«
»Ich würde schätzen, Mitte dreißig, aber das ist wirklich eine Schätzung, weil diese Art Elend – Obdachlosigkeit und Geisteskrankheit –, sie setzt den Alterungsprozess außer Kraft, nicht wahr?«
»In welcher Hinsicht, Ma’am?«
»Was ich meine«, sagte Barnes, »ist, dass Leute wie sie alle alt und kaputt aussehen – es gibt einen Überzug von Verzweiflung. Die hier hat es aber geschafft, sich etwas von ihrer Jugend zu bewahren; unter dem Schmutz konnte ich einen Hauch von Jugend erkennen. Ich kann es nicht besser erklären.« CoCo Barnes dachte einen Moment lang nach. »Was andere Einzelheiten betrifft, sie trug eine dicke, wattierte Militärjacke über einem schwarz-weiß-roten Flanellhemd über einem blauen UCLA-Sweatshirt. UCLA in weißen Buchstaben, das C war nur noch zur Hälfte da. Untenrum hatte sie eine graue Jogginghose an, und die war derart ausgebeult, dass sie mindestens noch eine Hose darunter trug. Weiße Tennisschuhe mit Schnürsenkeln an den Füßen und einen schwarzen Strohhut mit breiter Krempe auf dem Kopf. Die Krempe war vorne zerfetzt – einzelne Strohhalme guckten heraus. Ihre Haare waren unter dem Hut verborgen, aber ein paar hatten sich gelöst, und die waren rot. Und lockig. Lockiges rotes Haar. Fügen Sie all dem noch eine Schicht Schmutz hinzu, dann können Sie sich ein Bild machen.«
Milo kritzelte. »Haben Sie sie jemals zuvor gesehen?«
»Nein«, sagte Barnes. »Weder auf dem Fußweg noch irgendwo in den Gassen von Venice noch im Ocean Front Park oder irgendwo sonst, wo sich die Obdachlosen herumtreiben. Vielleicht gehört sie nicht zu den Einheimischen.«
»Gibt es sonst noch irgendwas an der Begegnung, woran Sie sich erinnern?«
»Es hatte nicht viel von einer Begegnung, Detective. Ich hab die Tür aufgemacht, sie hat sich erschrocken, ich hab ihr angeboten, was zu essen zu holen, sie ist weggelaufen.«
Milo überflog seine Notizen. »Sie haben ein großartiges Gedächtnis, Ms. Barnes.«
»Sie hätten mich vor ein paar Jahren kennen lernen sollen.« Die alte Frau tippte sich an die Stirn. »Ich bin daran gewöhnt, geistige Schnappschüsse zu machen. Wir Künstler betrachten die Welt durch ein scharfes Objektiv.« Sie blinzelte zweimal. »Wenn ich nicht davor gekniffen hätte, mich am grauen Star operieren zu lassen, wäre ich noch
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