Blutnacht
mitbekommen habe. Keine Freunde, keine Teilnahme an studentischen Aktivitäten. Aber kein beängstigender Junge. Still. Nachdenklich. Von mittlerer Intelligenz, in sozialer Hinsicht nicht allzu begabt.«
»Wie viel Kontakt hatten Sie mit ihm?«
»Von Zeit zu Zeit trafen wir uns zu curricularen Beratungen, Dinge dieser Art. Er schien sich treiben zu lassen … schien die College-Erfahrung nicht zu genießen. Was nichts Ungewöhnliches ist, eine Menge Kids lassen den Kopf hängen.«
»Depressiv?«, fragte ich.
»Sie sind der Psychologe«, erwiderte Shull. »Aber ja, das würde ich sagen. Wenn ich jetzt darüber nachdenke, habe ich ihn nie lächeln sehen. Ich habe versucht, ihn aus der Reserve zu locken. Er hatte nicht viel für beiläufige Konversation übrig.«
»Angespannt.«
Shull nickte. »Eindeutig angespannt. Ernsthafter Junge, scheinbar kein Sinn für Humor.«
»Wo lagen seine Interessen?«
»Hmm«, machte Shull. »Ich würde sagen in der Popkultur. Was auf die Hälfte unserer Studenten zutrifft. Sie sind Produkte ihrer Erziehung.«
»Was meinen Sie damit?«
»Der Zeitgeist«, erwiderte Shull. »Wenn Ihr Elternhaus irgendeine Ähnlichkeit mit meinem hatte, haben Sie ein Grundwissen in Büchern, Theater, Kunst vermittelt bekommen. Die heutigen Studenten wachsen wahrscheinlich in Familien auf, wo zufälliger Fernsehgenuss die bevorzugte Unterhaltung ist. Es ist nicht gerade einfach, sie für Qualität zu begeistern.«
Meine Kindheit war in Schweigen und Gin begründet gewesen. Ich fragte: »Welche Aspekte der Popkultur haben Kevin interessiert?«
»Alle. Musik, Kunst. In dieser Hinsicht hat er perfekt in den Fachbereich gepasst. Elizabeth Martin schreibt uns einen holistischen Ansatz vor. Kunst als generelle Rubrik, in der alle Aspekte zur Sprache kommen.«
»Von mittlerer Intelligenz.«
»Ein Dilettant. Fragen Sie mich nicht nach seinen Noten. Das ist definitiv nicht drin.«
»Wie wäre es mit einer ungefähren Einschätzung?«
Shull ging zu dem baumgefüllten Fenster, rieb sich den Kopf, lockerte seine Krawatte. »Wir bewegen uns hier auf dünnem Eis, mein Freund. Das College ist unerbittlich, wenn es um die Vertraulichkeit von Noten geht.«
»Wäre es fair, ihn als mittelmäßig zu bezeichnen?«
Shull lachte leise. »Okay, so viel wird man sagen können.«
»Gab es im Lauf der Zeit eine Änderung in seinem Notendurchschnitt?«
Shull zögerte. »Ich erinnere mich möglicherweise an ein leichtes Nachlassen seiner Bemühungen gegen Ende seines Aufenthalts hier.«
»Wann?«
»In den letzten beiden Jahren.«
Direkt nach dem Mord an Angelique Bernet. Irgendwann vor seinem Examen hatte Kevin Drummond Groove-Rat konzipiert.
Ich fragte: »Ist Ihnen bewusst, dass Kevin sich als Verleger versucht hat?«
»Ach, das«, sagte Shull. »Sein Magazin.«
»Haben Sie es gesehen?«
»Er hat mit mir darüber geredet. Das war in der Tat das einzige Mal, dass ich ihn lebhaft werden sah.«
»Er hat Ihnen das Magazin nie gezeigt?«
»Er hat mir ein paar Artikel gezeigt, die er geschrieben hatte.« Shulls Lächeln war schief, reuevoll. »Er wollte gelobt werden. Ich habe versucht, seinem Wunsch zu entsprechen.«
»Aber seine Art zu schreiben war nicht lobenswert.«
Shull zuckte mit den Achseln. »Er war ein Student. Er schrieb wie ein Student.«
»Soll heißen?«
»Grundstudiumsmäßig – hauptstudiumsmäßig, examensmäßig. Das gehört zu meiner ständigen Ernährung. Was völlig in Ordnung ist. Jede Technik braucht ihre Zeit zur Entwicklung. Der einzige Unterschied zwischen Kevin und Hunderten anderer Kids besteht darin, dass er glaubte, er wäre bereit für den großen Wurf.«
»Haben Sie ihm gesagt, dass er es nicht ist?«
»Um Himmels willen, nein«, erwiderte Shull. »Warum sollte ich sein Selbstvertrauen erschüttern, bei einem gestörten Jungen wie ihm? Ich wusste, dass die Welt ihm das ganz von selbst antun würde.«
»Ein gestörter Junge?«, fragte ich.
»Sie sagen mir, er ist in einen Mordfall verwickelt.« Shull kam zu seinem Stuhl zurück. »Ich will ihn wirklich nicht schlecht machen. Er war ruhig, ein bisschen seltsam, machte sich Illusionen, was sein Talent betraf. Das ist alles. Ich möchte ihn nicht wie einen Irren erscheinen lassen. Er hat sich nicht sehr von anderen kleinen Freaks unterschieden, die mir über den Weg gelaufen sind.« Er stützte sich mit den Ellbogen auf den Tisch und sah mich ernst an. »Es besteht keine Chance, dass Sie mir irgendwelche Einzelheiten
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