Blutnebel
den Kopf, wobei ihr Haar seinen Brustkorb streifte. »Der landet sowieso bald wieder im Gefängnis. Ich behalte mir das noch als Ass in der Hinterhand.« Ihr schwarzer Humor meldete sich zu Wort. »Bei Luverne lohnt es sich immer, noch einen Trumpf im Ärmel zu haben.«
»Eigentlich hätte er dich beschützen müssen.« Auf einmal registrierte sie seinen Unterton und zuckte erstaunt zusammen. Unterdrückte Wut. »Er ist dein Bruder, und er hätte damals auf dich aufpassen sollen.«
»Familienloyalität wird bei den Hawkins nicht besonders gepflegt.« Ihr kläglicher Versuch, humorvoll zu klingen, verpuffte. »Wir waren Abschaum, Dev. Die Sorte, die es hier in der Stadt vermutlich auch gibt, die Leute, die alle bemitleiden oder auf die man herabschaut. Meine Mutter war nie zu stolz, Almosen anzunehmen. Wir waren so weit unten, dass ich die Leute beneidet habe, die auf der anderen Seite des Trailerparks in den doppelt breiten Mobilheimen gelebt haben. Die Leute, die Veranden und Vorgärten hatten. Im Vergleich zu uns lebten sie wie die Könige.«
»Du bist jetzt weit weg vom Trailerpark.«
Sie widersprach ihm nicht. Nicht einmal, als ihr klar wurde, dass der Trailerpark einen großen Teil dessen ausmachte, wer sie gewesen war und was sie geformt hatte. Er war Teil der Dunkelheit, die in ihr wohnte und die einst gedroht hatte, sie mit Haut und Haar zu verschlingen.
»Ich wusste, was man in Cripolo von meiner Familie hielt«, flüsterte sie mit brennenden Augen. »Deswegen hab ich kaum jemandem in die Augen schauen können. Masterson hat zwei Wochen gebraucht, bis ich sein ›Hallo‹ erwidert habe. Aber er war hartnäckig.«
Und sie war dumm gewesen. Sie schloss die Augen vor Mitleid mit der naiven Fünfzehnjährigen, die sie gewesen war. Die Jugendlichen heutzutage wirkten irgendwie klüger, oder? Älter, als sie waren. Doch sie war im Eiltempo erwachsen geworden, sobald Reggie Masterson sein Interesse an ihr bekundet hatte.
»Einen Monat später wollte er mir unbedingt die schönste Stelle zum Sternebeobachten in der ganzen Gegend zeigen.« Und sie war jung und dumm genug gewesen, um davon zu träumen, dass sie sich dort zum ersten Mal küssen würden. »Blöderweise hatte er etwas ganz anderes im Sinn. Eine kleine nackte Jagd im Wald, gefolgt von einer Bandenvergewaltigung. Der Erste, der mich mit der Paintgun traf, sollte als Erster randürfen, vermute ich.« Sie zuckte die Achseln. »Da haben sie sich ein bisschen übernommen.« Aber zuerst verschreckten sie sie mit einer Szene, die – wenn sie ehrlich war – noch immer in ihren Albträumen vorkam.
»Und sein Dad war der örtliche Polizist.«
»Er war der Sheriff. Und da das Ganze auf öffentlichem Grund passiert ist, wurden wir zu ihm geschickt.« Hilda Hawkins hatte sie in Sheriff Mastersons Büro geschoben, in Tränen aufgelöst und voller blauer Flecken. Doch Ramsey war tief in ihrem Innern begeistert davon gewesen, dass ihre Mutter sich wie ein richtiger Elternteil verhalten hatte. Sich auf ihre Seite gestellt hatte.
»Meine Mutter hat vom Sheriff achthundert Dollar dafür angenommen, dass sie die Sache vergisst. Ich war von da an als Dorfschlampe verschrien. Sie hat zwei neue Stühle für ihren Friseursalon und eine teure Trockenhaube gekauft. Und schon war das Geld weg.«
»Großer Gott, Ramsey.« Er schlang den Arm fester um sie, sodass sie kaum noch Luft bekam. Doch sein Gewicht wärmte etwas in ihr.
Ohne sie loszulassen, stützte er sich auf einen Ellbogen und sah ihr aus nächster Nähe ins Gesicht. »Du bist die stärkste Frau, die ich kenne. Zu stark, dachte ich manchmal. Ich kann das an dir bewundern und zugleich verabscheuen, wie diese Stärke zustande gekommen ist.«
Sein Kuss war hauchzart. Fast hätte er die Kraft besessen zu heilen, das Gewirr aus schmerzlichen Gefühlen in ihr ein klein wenig aufzulösen.
»Ich will nicht, dass du dir Sorgen machst.« Ihre Stimme war ein Flüstern, doch als er innehielt, wusste sie, dass er sie gehört hatte. »Es wäre so viel leichter, wenn du es lassen würdest.«
»Es wäre leichter, wenn du nichts fühlen würdest«, erwiderte er. »Aber du fühlst etwas, Ramsey. Du kannst so tun, als wäre dem nicht so, doch du fühlst etwas. Und keiner von uns kann sich dazu zwingen, nicht in bestimmter Weise zu fühlen.« Seine Hand löste sich von ihrer Hüfte, um zärtlich ihr Haar zu streicheln. »Ich will nichts weiter, als dass du nicht vor deinen Gefühlen davonläufst. Wenigstens nicht, bis du dir
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