Blutnebel
»Dein Daddy ist an diesem Abend früher nach Hause gekommen und hat uns erwischt.«
Obwohl er schon halb mit der Enthüllung gerechnet hatte, traf ihn die Neuigkeit wie ein Fausthieb in die Magengrube. Kein Kind sollte so viel über das Privatleben seiner Eltern wissen.
»Okay.« Er schluckte schwer und rang um die Objektivität, die ihm bei seinen Forschungen so dienlich war. »Und dann wurde es vermutlich … unschön.«
»Es gab einen furchtbaren Streit. Lucas und … der andere Mann haben sich geprügelt, ehe dein Daddy ihn hinausgeworfen hat. Dann haben wir uns fürchterlich angeschrien, und er hat angefangen zu trinken. Wir hatten normalerweise nicht viel Alkohol im Haus, aber wir hatten etwa einen Monat zuvor ein Grillfest gegeben. Es waren noch ein paar von den Flaschen da, die die Leute mitgebracht haben, und er hat sich darüber hergemacht. Er wurde …« Sie erschauerte. »Er war nicht mehr bei Sinnen. Ich bekam Angst und habe seine Familie angerufen. Hab dich aus dem Bett gerissen und bin mit dir zu meinem Daddy gelaufen. Weiter hab ich nichts mitgekriegt, bis am nächsten Tag die Polizei bei uns angeklopft hat.«
Er starrte sie an, während widerstreitende Gefühle in ihm aufwallten. »Du hast Lucas ganz schön schnell aufgegeben, sobald bekannt wurde, was passiert war, stimmt’s?«
Schuldbewusst errötete sie. »Du hast ihn nicht erlebt in dieser Nacht. Das war nicht mehr der Mann, den ich kannte. Er war gewalttätig. Und so wütend. Ich weiß wirklich nicht, wozu er imstande gewesen wäre.«
Und genau das war die Crux daran, dachte Dev wie betäubt. Vielleicht war niemand das, was er schien. Kaum kratzte man an der Oberfläche, kamen alle möglichen Gemeinheiten zum Vorschein. »Ich glaube, das Gleiche kann man von uns allen sagen, Mama. Und du bist alles andere als schuldlos an dem Ganzen.«
Die Feuchtigkeit in ihren Augen war wie weggewischt. Jetzt blitzten sie wie Granit. »Du hast einiges von deinem Daddy in dir, Devlin. Erwartest immer mehr von den anderen, als sie geben können. Es macht das Zusammensein mit dir schwer, wenn ich weiß, dass ich deinen Erwartungen nie genügen kann.«
Wenn sie ihm ein Messer in die Brust gerammt hätte, hätte sie ihn nicht tiefer verletzen können. Er holte tief Luft. Stieß sie wieder aus. Als er wieder sprechen konnte, sagte er: »Das mag sein. Vielleicht hast du auch einfach nicht mehr zu geben. Wie auch immer, ich glaube, es ist unnötig, dass einer von uns beiden noch irgendetwas heuchelt.« Er nickte zum Haus hin. »Grüß Howard schön von mir«, sagte er mit bitterer Ironie.
Sie versuchte nicht, ihn aufzuhalten, als er zum Auto ging. Hätte es etwas genützt, wenn sie es getan hätte? Er wusste es nicht, doch es war unwahrscheinlich. Die marode Fassade einer Beziehung, um die sie sich im Lauf der letzten Jahrzehnte herumgewunden hatten, war nun ein für alle Mal eingestürzt.
Er blieb noch ein paar Minuten im Auto sitzen, nachdem Celia Ann im Haus verschwunden war. Immer wieder umklammerte er das Lenkrad und ließ es wieder los. Je mehr er herausfand, desto mehr Fragen stellten sich. Das Problem war nur, dass er langsam die Lust auf die Antworten verlor.
Er ließ den Wagen an und fuhr los. Etwas, das seine Mutter gesagt hatte, ging ihm jedoch trotz allem im Kopf herum. Dass er mehr erwartete, als die Leute geben konnten.
Und ob Ramsey wohl auch ihrer Meinung wäre.
Der Verdächtige ist ein durchsetzungsstarker Täter, der seine Taten mithilfe eines Wertesystems aus einer über hundert Jahre alten religiösen Sekte rechtfertigt. Die Symbole der Religion, also die Pflanze, die das Opfer zu schlucken gezwungen wurde, sind Teil seiner Handschrift. Zu seiner Vorgehensweise gehören wahrscheinlich List und Überrumpelung, und es steht zu vermuten, dass er Gewalt anwendet, um das Opfer gefügig zu machen. Die Spuren deuten darauf hin, dass er nicht allein gehandelt hat.
Der Tod des Opfers war das vorgezeichnete Ergebnis der Tat selbst, doch der Täter benutzt wahrscheinlich sexuelle Folter, um das Opfer für irgendein vermeintlich unwürdiges Verhalten im Laufe des Übergriffs zu »bestrafen«.
Der Täter ist vermutlich von überdurchschnittlicher Intelligenz, weiß und zwischen fünfunddreißig und fünfzig Jahre alt. Angesichts der Unerbittlichkeit des Wertesystems, mit dem er seine Taten rechtfertigt, ist nicht anzunehmen, dass dies sein erster Übergriff war. Das Risiko, dass er noch einmal zuschlägt, ist extrem hoch.
Ramsey las das
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