Blutorangen
orangefarbenen, glänzenden Keramikkacheln um die Mitte. Gegenüber steht ein vierstöckiges, erschreckend weißes Gebäude, das wie ein Gletscher in einer Teergrube hervorsticht: Es ist das Gebäude 42, das Gefängnis. Nördlich von Nummer 42 befindet sich Nummer 44, ein kleineres Gebäude, in dem die Frauen sind. Ich war bisher in keinem der Gebäude, da ich kein Polizist bin und keinen Grund habe, dort hineinzugehen. Aber wann immer ich zum Leichenschauhaus komme, stelle ich mir vor, wie die Gefangenen aus ihren Fenstern schauen und sehen, wie ihre Kumpel aus den Wagen gehoben und durch die Türen im hinteren Teil geschoben werden. Und später sehen sie die Familien ihrer Kumpel, die durch die Eingangstür aneinander geklammert herauskommen, mit den Händen über ihrem Mund.
Ich überquerte die roten Pflastersteine am Eingang und ging durch die Vordertür. Janetta, die Sachbearbeiterin, die zudem sehr hübsch ist, hatte zwei Wollpullover an, einen weißen über einem pinkfarbenen und darunter ein marineblau-gepunktetes Kleid. Janetta erhaschte einen Blick von mir und sagte, »Hallo«, und ihr Lächeln machte ihre spanischen Gesichtszüge noch hübscher. »Hier ist es immer kalt«, sagte sie und legte die Arme um sich. Ich lachte mitfühlend zurück und wünschte, sie würde sich nicht so kleiden. Ein Beatles-Lied spielte über die Gegensprechanlage: »If I give my heart to you-oo-oou ...«
Sie ging zu einem der alten Schränke, in dem sich immer noch die Akten befanden, die noch nicht per Computer erfaßt worden waren, zog die Schublade auf und sah die Akten durch. Im hinteren Teil des Raumes saß eine Frau an einem Schreibtisch, die ich nicht kannte, sie fragte Janetta: »Was machen wir mit den Nichtidentifizierten? Bekommen sie auch eine Nummer oder kommen sie in eine separate Akte?«
Janetta sagte: »Einen Moment, Smokey«, und legte etwas in die Schublade zurück. Sie ist zu Frauen und Männern gleichermaßen freundlich und versteht ihr Handwerk. Sie macht gerade ihren Abschluß in BWL. Darum wünschte ich mir, sie würde sich nicht so anziehen. Ich will, daß Leute sie ernst nehmen. Ich lehnte mich auf das Brett des Kundenschalters. Ich fühlte mich hier am Schalter immer komisch, da es nämlich einen etwa 30 cm breiten Rand gibt, so als ob mir jeden Moment jemand Kuchen bringen und sagen würde, der Kaffee käme später.
Als ich auf die Besucherliste schaute, sah ich viele Namen. Ich fragte: »Wer ist das alles?«
»Studentenführung«, sagte sie lächelnd. »Du weißt, wie Jack immer zu ihnen sagt, >Fallt nicht in Ohnmacht. Jeder, der es tut, wird auf eine Bahre gelegt.< Ein Mädchen hat sich daraufhin gleich verabschiedet. Sie ging heraus und sah wirklich grün im Gesicht aus.«
Ich stellte mir gerade vor, wie die Studentin auf dem Parkplatz im Auto saß, und versuchte den Mut aufzubringen, wieder hineinzugehen. Gewöhnlich gehen sie wieder hinein, da die Neugierde oder die Bloßstellung sie dazu bringen. Als ich einmal bei einer Autopsie eines Mannes mit ungeklärter Todesursache dabei war, kam gerade eine Studentenführung vorbei. Der Assistent des Gerichtsmediziners ging auf und ab und wiederholte, »Starren Sie nicht hin und lassen sie die Knie schön locker. Nicht hinstarren und Knie locker lassen«, bis sie sich an den Anblick der Toten, in welchem Stadium der Autopsie auch immer, gewöhnt haben. Manche sind gerade aufgeschlitzt worden, bei einigen wurde die Kopfhaut über das Gesicht geschoben, damit man sich mit dem Gehirn befassen konnte. Ein Student hörte nicht auf den Rat. Er fiel dreimal in Ohnmacht, stieß dabei einen Wagen mit Geräten, auf dem die großen Scheren lagen und die Behälter für den Urin, in die Mitte des Raumes. Wenigstens müssen sich die Ärzte hier keine Sorgen über eine Sterilisation der Instrumente machen.
Ich muß sagen, daß ich mich über die Leute wundere, die hier arbeiten. Für die Polizisten gibt es wenigstens manchmal Augenblicke, in denen sie wissen, daß sie jemanden beschützt haben und noch seltenere Momente, wo die Opfer oder betroffenen Personen ihren Dank aussprechen. Aber diese Fleischverwerter sind von anderem Kaliber. Einige sind geradezu makaber. Die Witze sind mir eigentlich egal — der Humor erhält uns alle gesund. Es ist etwas Seltsames, das ich noch nicht verstanden habe; die Lust am Abscheulichen. Ich sage Joe manchmal, daß dieser oder jener ein komischer Vogel ist. Er sagt dann: »Ach, der Junge hat seinen Platz gefunden. Laß ihn da.«
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