Blutportale
Will hatte das Gefühl, dass inzwischen auch seine Ohren glühten. Das Boot lag längsseits des Beton-Kais, und Herrmann hielt die Arnos mit den Motoren in gleichbleibendem Abstand zur Mauer. Sie gingen von Bord. Justine überließ ihm weitere zweihundert Euro, danach trug sie ihm mit Gesten auf, bis zum Abend auf sie zu warten. Sie gingen zum Bus und fragten den Fahrer nach Posolsk. Zu ihrer Erleichterung fuhr er wirklich dorthin.
»Rückbank«, sagte Justine und lief wie ein übermütiges Kind nach hinten, um die Bank in Beschlag zu nehmen. Will und Saskia folgten ihr ein wenig irritiert und setzten sich in die Reihe davor. Die Irritation steigerte sich zu echter Überraschung, als die Französin mit einem leicht verlegenen Blick sagte: »Kennt ihr das nicht von früher? Nur die Coolen dürfen auf die Rückbank ...« Sie räusperte sich. »Also, wie finden wir das Artefakt, mon petit Monsieur Finder-Inder?« Das war die Justine, die sie kannten. Will schwieg und versuchte, sich zu erinnern, was ihm nicht sofort gelingen wollte. Also suchte er seine Notizen heraus. Saskia beobachtete, wie das Schnellboot ablegte, um der Fähre Platz zu machen, die ihre Bugklappe bereits zur Hälfte geöffnet hatte.
»Ich kann es nicht sagen«, meinte er und las seine kargen Aufzeichnungen. »Wir werden sehen, was geschieht, wenn wir dort sind.«
»Sacre Dieul Ein wenig genauer wäre schon gut«, nörgelte Justine. »Wie wäre es mit einer hilfreichen Vision?«
»Ich bin kein Automat, in den man einen Cent wirft und das herausbekommt, was man haben möchte«, knurrte Will sie wütend an. Manchmal wollte er diese Frau schlagen, einfach nur zuschlagen, sehen, wie ihr Gesicht zur Seite ... Erschrocken hielt er inne. Justine war eine Nervensäge, ja, aber diese Reaktion war nun doch übertrieben. »Du weißt, dass es nicht so einfach ist, diese neue Gabe zu kontrollieren.«
»Nun«, sagte Justine und deutete auf Saskia, »sie kann es inzwischen.«
Saskia sah die Autos auf den Kai fahren, Passanten verließen den Innenraum der Fähre und eilten auf den Bus zu, manche mit Tüten und Taschen beladen.
Justine verzog das Gesicht. »Los, fass ihn noch mal an«, forderte sie.
»Was?«, kam es gleichzeitig von Will und Saskia.
»Fass ihn noch einmal an und verpass ihm eine Vision«, verlangte Justine mit Nachdruck. »Das spart uns eine ganze Menge Arbeit und Zeit. Wozu hast du denn die ganze Nacht geübt?« Will nickte. »Sie hat recht.« Er streifte den Ärmel hoch und präsentierte Saskia nackte Haut, über die sie Kontakt aufnehmen konnte.
Saskia zögerte. »Hier im Bus?«
»Vas-y, bevor die anderen eingestiegen sind«, drängte Justine.
Saskia gab nach, zog den rechten Handschuh aus und legte die Finger auf Wills Arm, dann konzentrierte sie sich, um ihre Gabe einzusetzen. »Ich versuche es, aber ich kann nichts garantieren«, warnte sie und schaute Will noch einmal an, um seine endgültige Zustimmung zu erhalten.
»Du schaffst es«, gab er mit einem misslungenen Lächeln zurück; ganz konnte er seine Angst nicht verbergen. Er nickte ihr zu, und sie schloss die Augen.
Auf einmal schien ein Stromschlag durch seinen Arm und durch sämtliche Körperzellen zu schießen, brachte ihn zum Zittern und Schwitzen und steigerte seine Rückenschmerzen derart, dass er laut stöhnte.
XIII. KAPITEL
11. November
Russland, Posolsk, südöstlicher Baikalsee
Pater Atanasios schaute auf die Uhr. In zehn Minuten begann die nächste Führung durch sein Kloster, und er bewegte sich über den von Mauern umschlossenen Hof zum Tor, um die Besucher zu empfangen.
Wie immer wusste er nicht, wie viele es sein würden. Die internationalen Pauschaltouristen suchten sich den Sommer aus, ihre Reisegruppen waren beim Vorsteher angemeldet. Im Winter tauchten höchstens ausländische Individualisten und Menschen aus dem Umland auf.
Die Klosteranlage war eingerüstet, die Gebäude lagen zum überwiegenden Teil hinter Planen verborgen, und von der Schönheit des Ensembles war nicht viel zu erkennen. Aber besser eine Renovierung mit optischen Beeinträchtigungen als der unwiederbringliche Niedergang. Das mussten auch die Touristen akzeptieren, die den weiten Weg nach Posolsk auf sich genommen hatten, um das Kloster zu besuchen. Die Enttäuschung angesichts der Gerüste und Planen tat den Mönchen sehr leid, und so bemühte sich Pater Atanasios bei jeder Führung, den Besuchern besonders viel Aufmerksamkeit zukommen zu lassen, inklusive Wodka, Tee aus dem
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