Blutrose
für die Kleinsten ab. Er war mit einem grellbunten Gemälde von lachenden Disney-Figuren verziert, die sich über die kinderlose Stille zu mokieren schienen.
»Ist das die Schaukel?« Clare deutete auf den letzten Reifen unter dem Gestell.
Tamar nickte. »Und das ist die Lücke im Zaun, durch die er hereingekommen ist.«
Sie gingen gemeinsam über den verlassenen Spielplatz. Clare setzte sich auf das Reifenstück, das als Sitzfläche diente. Der Geruch nach Gummi, der Druck, den sie an der Rückseite ihrer Beine spürte, rissen sie wie durch einen Tunnel in die Vergangenheit zurück. Die Bilder trafen sie so unmittelbar, dass es ihr den Atem verschlug. Sie selbst als ernste Sechsjährige, auf der Schaukel im Schulhof, wo sie mit den Beinen die Vergangenheit zurückschubste und die Arme der Zukunft entgegenstreckte. Die Sechsjährige, die sich wünschte, älter zu sein, damit sie endlich fliehen konnte. Beobachtet von Constance, ihrer Zwillingsschwester, deren Gesicht ihres widerspiegelte, abgesehen von dem, was es verbarg, die sie nicht aus den Augen ließ und sie in ihrer Nähe behalten wollte. Constance, die wie ein Gedankenfuchs Clares heimliche Sehnsucht danach ausschnüffelte, die Einzige zu sein, ein abgeschlossenes Ganzes in sich und für sich.
Clare merkte, dass Tamar sie beobachtete, und sah auf. Sie hielt die Schaukel an und sprang ab.
»Sie hat den besten Ausblick«, sagte Tamar. »Diese Schaukel.«
»Sie haben es ausprobiert?« Clare blickte auf die weite Sandfläche, die im Süden vom dunklen Arm des Kuiseb umschlungen wurde.
»Ich wollte ihm nachspüren. Seinem Tod. Um festzustellen, ob ich irgendwas von der Gewalt erahnen würde.«
»Und?«
Tamar wurde rot und schüttelte den Kopf. »Es gab ein paar Vertiefungen im Sand«, fiel ihr wieder ein. »So als hätte jemand mit einem dünnen Stock darin gestochert. Vielleicht mit einem Rohrstock.«
Clare nickte und ging hinüber zum Schulgebäude. Ein einziges Fenster zeigte auf den Spielplatz. Sie spähte in das düstere Klassenzimmer. Die aufgereihten kleinen roten Schreibtische und fröhlich gelben Stühle waren leer. Ein Stapel von Arbeiten
lag verlassen auf dem Lehrerpult. Die Aufschrift an der Tafel fiel ihr ins Auge: Mrs Ruyters, 1. Klasse, das Datum von Montag.
»Ruyters«, sagte Clare. »Der Name kommt mir bekannt vor.«
»Sie steht auf der Liste der zu befragenden Zeugen. Sie war schon früh hier, noch bevor Herman Shipanga eintraf«, erklärte Tamar und sah auf ihre Uhr. »Sollen wir uns auf den Weg machen? Ich muss mir unterwegs noch einen Kaffee und etwas Süßes besorgen. Schwangerschaft und leerer Magen gehen bei mir nicht zusammen. Genauso wenig wie Obduktion und leerer Magen.«
In der Venus Bakery herrschte frühmorgendlicher Andrang, als Tamar auf der gegenüberliegenden Straßenseite anhielt. An der Einmündung der Nebenstraße beugte sich eine vertraute Gestalt in die Fenster der Autos, die an der roten Ampel halten mussten.
»Das ist der Junge, dem ich gestern Abend begegnet bin«, sagte Clare und spürte wieder den Bluterguss an ihrem Arm. »Ich muss noch mal mit ihm reden.«
»Lazarus«, sagte Tamar. »Lazarus Beukes. Er hat was auf dem Kasten. Hat praktisch sein ganzes Leben auf der Straße verbracht. Er wird Ihnen jede Geschichte einblasen, die Sie seiner Meinung nach hören wollen.«
»Sie würden ihm nicht glauben?«, fragte Clare.
»Sagen wir es mal so«, antwortete Tamar, »Lazarus lässt sich nur selten von der Wahrheit eine gute Geschichte versauen.«
Links vom Eingang der Bäckerei kettete ein drahtiges Mädchen mit einem wilden schwarzen Heiligenschein von Haaren ihr Fahrrad an einen blauen Masten. Lazarus näherte sich ihr, mit kantigen Schultern unter der löchrigen Strickjacke, und versuchte ihr eine zerlesen wirkende Zeitung aufzuschwatzen.
»Das ist Mara Thomson. Die Freiwillige aus England.« Tamar deutete auf das Mädchen, das in diesem Augenblick das Geschäft betrat.
»Sie sehen sich ähnlich«, sagte Clare, während sie die Straße überquerten. »Eine komische Vorstellung, dass sie zehntausend Kilometer voneinander entfernt aufgewachsen sind.«
»Zwei Käsebrötchen, bitte«, bestellte Mara gerade, als sie die Bäckerei betraten.
Die Frau hinter der Theke nahm zwei gebutterte Brötchen aus der Vitrine, klatschte Käse darauf und wickelte sie in Plastikfolie. Sie schob sie über die Theke. »Sie sollten nicht mit diesen Straßenlümmeln reden«, sagte sie. Ihre dünne Oberlippe verzog sich
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