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Blutrose

Blutrose

Titel: Blutrose Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Margie Orford
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Trockengestell. Der Junge hatte sie vielleicht gefüllt und womöglich einen Blick auf sein kleines, spitzes Gesicht erhascht, bevor er die Hände in das kalte Wasser getaucht hatte, um den angesammelten Schlaf aus seinen Augen zu reiben. Vielleicht hatte er gehört, wie draußen die Mütter ihre Kinder zum Essen riefen, so wie Clare es jetzt hörte. Drinnen war alles still bis auf das Klicken in der Kehle des trinkenden Babys, das noch nichts von dem harten Leben ahnte, das es erwartete.
    Clare schraubte die Vaselinedose auf. Kaiser hatte sie vermutlich ein letztes Mal geöffnet, um den letzten Klecks blasser Creme herauszufingern, die er dann auf seinen Wangen verteilt hatte. Bestimmt waren die Schränke genauso leer gewesen wie jetzt, und der Kinderbauch hatte sich um das Wasser zusammengekrampft, das sein ganzes Frühstück darstellte. Wahrscheinlich hatten Kaisers Wangen braun in der Morgensonne geglänzt, die über die Wüste gekrochen kam, als er in die Kälte getreten war. Wenn seine Wangen glänzten, wären die Lehrer vielleicht nicht so wütend auf ihn, obwohl er so hungrig aussah.
    Clare blickte in die Spiegelscherbe. Sie zerschnitt ihr Gesicht in Fragmente. Entweder konnte sie ihren Mund oder ihre Augen, eine Wange oder ihr Kinn erkennen. Genauso zersplittert war das Bild, das sie von dem toten Jungen hatte. Ein zersprengtes Gesicht. Ein zerschnittener Brustkorb. Ein elegant nach innen gedrehter Fuß in einem weißen Nike-Schuh, eine volle Unterlippe. Ein von allen vergessenes Kind, das sie nie kennengelernt hatte und in dessen bettelnde Hände sie wahrscheinlich keine fünfzig Cents gelegt hätte.
    Clare malte sich den letzten Nachmittag aus, an dem der Junge hierhergekommen und links an dem gebeugten Feigenbaum
abgebogen war, unter dem sich der Freund seiner Schwester betrank, bevor er sie freitags verprügelte. Als er die Nachricht seiner Schwester entdeckt hatte, hatte sich der Junge vielleicht gewünscht, er könnte nicht lesen, aber auch dann hätte er alles aus dem Gesicht seiner Schwester ablesen können. Die Nachricht leuchtete ihm grün und blau entgegen. Daraufhin hatte er wohl sofort kehrtgemacht und war in die Stadt zurückgewandert. Um die Mülltonnen hinter den Schnellrestaurants zu durchwühlen.
    Wahrscheinlich hatte er erst aufgesehen, als ihn die Stimme aufschreckte, und dabei festgestellt, dass ihn der Fahrer eines Wagens fragte, ob er hungrig sei. Hatte er genickt? Oder war er zu stolz? Seine Augen waren beim Anblick der hingehaltenen Banknote bestimmt groß geworden.
    »Hol mir eine Cola. Und dir was zum Essen«, hatte der Fahrer vielleicht gesagt. »Steig ein.« Weil der Nebel allmählich dichter wurde, hatte der Junge genau das getan. Und niemand hatte ihn in diesem Wagen im Nebel verschwinden sehen.
    »Sollen wir ans Meer fahren?«, hatte der Fahrer vielleicht gefragt. Oder in die Wüste. Oder an die Lagune.
    Der Junge hatte genickt. Warum nicht?
    Am Rand der Lagune kam die Flut heran; das Wasser strömte über den freiliegenden Schlamm und rund um die rosa Beine der gestelzten Flamingos, die mit gesenktem Kopf nach Futter suchten. Wie auf Kommando hatten die Vögel die Köpfe gehoben, als das Zuschlagen einer Autotür die Stille durchschlug.
    Sie malte sich aus, wie der Wagen die Biegung der Lagune nachgefahren war in Richtung der von Nebel umhüllten Salinen und wie der Junge die Finger am Lenkrad beobachtet hatte.
    »Hast du Familie?«
    Vielleicht hatte der Junge an das Holzkreuz gedacht, das auf dem Grab seiner Mutter stand, oder an das zerschundene Gesicht seiner Schwester, und danach den Kopf geschüttelt.

    »Hast du was Bestimmtes vor?«
    Wieder schüttelte der Junge den Kopf.
    »Hast du Lust, ein bisschen rumzufahren?«
    Offensichtlich hatte der Junge das gewollt. So viel wussten sie. Clare fragte sich, ob er geahnt hatte, dass es seine letzte Fahrt sein würde. Ob er gespürt hatte, was auf ihn zukam, ob er es vielleicht sogar ersehnt hatte …
    »Clare, wir sollten gehen.« Tamars Stimme holte Clare in das kleine, beengte Haus zurück. Tamar hielt das Baby, und Sylvia hielt einen Mickymaus-Rucksack in den Händen.
    »Er hat seine Schultasche hiergelassen. Nehmen Sie sie mit«, sagte sie. »Vielleicht hilft sie Ihnen.«

    Als sie die Straßenecke erreicht hatten, blickte Clare noch einmal auf das Haus zurück. Sylvia war am Tor stehen geblieben, wo der Wind den Rock um ihre dünnen Beine schlug. Clare öffnete den Rucksack. Er enthielt ein Etui für die Stifte, einen

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