Blutrose
eselsohrigen Harry Potter auf Afrikaans und ein Tagebuch. Sie blätterte darin herum: voller Hausaufgabeneinträge am Jahresanfang, die immer größere zeitliche Lücken aufwiesen. Einhundert namibische Dollar rutschten heraus. Clare legte den Finger zwischen die Seiten, aus denen sie gefallen waren. August. Vor ein paar Wochen, als alle drei Jungs noch gelebt hatten.
»Eine Menge Geld, das er nicht ausgegeben hat.« Clare steckte den Schein zwischen die Seiten zurück, während Tamar auf den Parkplatz beim Polizeigebäude bog.
»Ich mache einen Spaziergang«, erklärte Clare. »Ich brauche frische Luft.«
Sie ging in Richtung Wasser, wo der weite Horizont nach der Enge der Pathologie und Sylvias vollgepferchtem Haus wie eine Erholung wirkte. Die Sonne vergoldete die trostlosen Bauten am Wasser und legte sich wie eine wärmende Hand auf ihre Haut. Sie vermisste Riedwaan als Auditorium für die Gedanken,
die ihr im Kopf herumwirbelten. Dabei brauchte sie nur über ihren Schatten zu springen und ihn anzurufen, um den Fall mit ihm zu besprechen.
Sie schluckte und wählte, doch sein Handy schaltete direkt auf die Mailbox. Sie rief in seinem Büro an. Nach einigen Freizeichen wurde ihr Anruf zur Zentrale weitergeleitet.
»Special Investigations Unit. Kann ich Ihnen helfen?«
»Hier ist Clare Hart. Bitte stellen Sie mich zu Captain Faizal durch.«
»Er ist nicht da. Er hat sich aus persönlichen Gründen einen Tag frei genommen.«
Clare kannte die Springerin. Eine vollbusige Jurastudentin mit einem Faible für Uniformen.
»Aus persönlichen Gründen?«, sagte sie. »Damit ist er wohl der Erste bei der südafrikanischen Polizei. Sie haben zu viele Zeitschriften gelesen.«
»Es hat etwas mit seiner Frau und seiner Tochter zu tun. Ich würde das persönlich nennen.«
Das brachte Clare zum Verstummen.
»Möchten Sie eine Nachricht hinterlassen, Dr. Hart?«
»Nein.«
»Soll ich ihm sagen, dass Sie angerufen haben?«
Gabriella. So hieß sie, fiel Clare wieder ein. »Das ist nicht nötig, Gabriella.«
Clares Magen rief ihr knurrend ins Gedächtnis, dass ein langer Vormittag hinter ihr lag und sie dringend etwas zu essen brauchte. Auf dem Rückweg zum Revier ging sie bei der Bäckerei vorbei und bestellte Brötchen und Kaffee zum Mitnehmen.
»Zwölf fünfzig«, sagte die Verkäuferin, dieselbe schmallippige Frau, die am Vortag Mara die Leviten gelesen hatte. »Sie sind doch die Expertin aus Südafrika.«
»Ich komme aus Kapstadt.« Clare kramte in den unvertrauten Geldscheinen in ihrer Börse.
»Reine Geldverschwendung. Da stirbt einer, und schon werfen sie unsere Steuergelder mit beiden Händen zum Fenster raus, um Sie herzuholen.« Eine Ader pulsierte in der Schläfe der Frau. »Wo wohnen Sie?«
Clare war so überrascht, dass sie antwortete: »An der Lagune.«
»Ich hab’s gewusst. Und das in einer Stadt ohne Geld oder Arbeit.«
Wie paralysiert durch das Gift der Frau, nahm Clare ihre Einkäufe und ging nach draußen. Sie trat vom Bürgersteig und landete direkt vor einem riesigen Ford-Pickup. Der Fahrer stieg auf die Bremse, und sie sprang zurück. Clares Herz setzte einen Schlag aus, als sie ihn wiedererkannte: Ragnar Johansson. Sie hatte nicht einkalkuliert, dass er immer noch in Walvis Bay sein könnte.
»Hey, Clare.« Eisblaue Augen in einem wettergegerbten Gesicht. Ragnar Johansson streckte eine mit dicken Adern gezeichnete Hand vor, um den Labrador zurückzuhalten, der jaulend neben ihm saß. »Ich habe mich schon gefragt, ob du wohl anrufen würdest.«
»Du hast nicht lang gebraucht, um mich zu finden.« Clare strich die Haare aus dem Gesicht und versuchte Zeit zu schinden.
»Nicht in einer so kleinen Stadt«, sagte Ragnar.
»Ich war nicht sicher, ob du es gewollt hättest.«
»Also, jetzt habe ich dich gefunden«, lächelte er. »Ich werde dir später sagen, ob ich das gewollt hätte.«
»Wie geht es dir?«
»Gut.«
»Island?«, fragte sie aufs Geratewohl.
»Hat nicht geklappt. Kapstadt?«
»Ist schön.«
»Bist du allein?«
Clare wandte den Blick ab und nickte.
»Soll ich dich mitnehmen?«
»Nein danke.«
Er strich ihr mit seiner rauen Hand über die Wange. »Wäre schön, sich mal wieder auszutauschen.«
»Das wäre es.« Es wäre ihr zu unfreundlich vorgekommen, sich seiner Berührung zu entziehen.
»Abendessen?«
»Okay.«
»Ich hole dich um halb neun ab.«
»Ich wohne in den Bungalows an der Lagune.«
»Ich weiß.«
Ragnar legte den ersten Gang ein und fuhr los. Er und
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