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Blutrose

Blutrose

Titel: Blutrose Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Margie Orford
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Das Wickelkind maunzte. Sylvia zurrte das Trageband fester, daraufhin verzog es den Rosenknospenmund zu einer Schnute und schlief wieder ein. »Wie heißt es?«, fragte Tamar.
    »Wilhelm. Nach seinem Vater.« Dann glühte Trotz in Sylvias Blick auf. »Aber ich nenne ihn Kaiser.«
    »Nach deinem Bruder?«
    »Ja, nach meinem Bruder.« Als Sylvia den Blick senkte, beschien das Morgenlicht die nicht entstellte Seite ihres Gesichtes. Ohne die Blutergüsse war sie wunderschön.
    »Die Jungen auf der Müllkippe haben erzählt, dass Kaiser nicht immer dort war?« Tamar ließ die Aussage wie eine Frage klingen.
    Sylvias Miene war die eines verschlossenen Kindes, das auf keinen Fall petzen will. Ihr Blick zuckte zum Küchentisch hinüber. Unter dem Resopal klemmte eine dünne blaue Matratze, die um eine graue Decke gerollt war.

    »Dein Bruder hat ab und zu hier geschlafen?«
    »Wenn mein Freund Nachtschicht hatte. Er wollte nicht, dass Kaiser herkommt …« Ihre Stimme versagte. Clare fragte sich, wie lange die mollige Wange des kleinen Babys frei von blauen Flecken bleiben würde.
    »Hast du die Freunde deines Bruders gekannt?«
    »Bevor mich Wilhelm hierhergebracht hat, waren wir immer nur zu zweit«, sagte Sylvia.
    »Wann war das?«, fragte Clare.
    »Vor zwei Jahren.« Das Mädchen klang beschämt. »Ich hatte nichts zu essen.«
    »Wie alt warst du da?«
    Sylvia zuckte die Achseln. »Vielleicht dreizehn. Ich weiß nicht.«
    Clare stellte sich vor, dass sie mit dreizehn lieber regelmäßig die Faust eines Bekannten im Gesicht gespürt hatte als das Messer eines Unbekannten im Bauch.
    »Und Kaiser? Was hat er gemacht?«, fragte Clare.
    »Manchmal hat er bei mir gewohnt. Manchmal auf der Straße. Wenn ich Geld hatte, habe ich ihm welches gegeben.«
    »Wann hast du ihn das letzte Mal gesehen, Sylvia?«, fragte Tamar.
    Das Mädchen sank in sich zusammen. Für einen gespenstischen Moment sah sie aus wie die Greisin, die sie mit dreißig sein würde. Wenn sie so lange lebte. »Der Vater meines Babys hat seine Schicht verlegt«, sagte sie. »Kaiser musste für immer gehen.«
    »Versuch dich zu erinnern, wann das war«, hakte Clare nach. Mit Geduld würden sie alles erfahren, was sie wissen wollten.
    »Letzte Woche hat er aufgehört, in der Nachtschicht zu arbeiten. Als ich mit dem Baby aus dem Krankenhaus gekommen bin, hat er gesagt, dass Kaiser rausmuss.«
    Ihre Hand kam auf dem blauen Fleck unterhalb ihres Auges
zu liegen. Das erklärte das Timing: Der Bluterguss war jünger als das Baby, aber nur vierundzwanzig Stunden.
    Sylvia holte tief Luft. »Ich hab ihm einen Zettel geschrieben.« Sie hob die Hand und der kurz aufflackernde Funke in ihren Augen erlosch. »Danach hab ich ihn nicht mehr gesehen.« Ihre Stimme war so leise, dass Clare die winzigen, schnaufenden Atemzüge des schlafenden Babys auf ihrem Rücken hören konnte.
    »Und Wilhelm?«, fragte Tamar. »Wo war der am Freitagabend?«
    »Der war den ganzen Abend bei mir.«
    »Dürfen wir uns etwas umsehen?«, fragte Clare.
    Sylvia nickte. Sie band sich das Baby vom Rücken, setzte sich und knöpfte die Bluse auf. Der Mund des Babys teilte sich, sauber und rosa. Eine kleine pummelige Hand knetete ihr weiches Fleisch. Sylvia wölbte die freie Hand um den zerbrechlichen Kopf des Kindes. Tamar setzte Wasser auf, um Tee zu kochen, und befragte Sylvia nach der Geburt und dem Stillen. Das besänftigende Geplauder von Müttern.
    Clare blendete Tamars leises Murmeln aus und entrollte die abgenutzte Matratze. Der verblichene Superman-Pyjama ließ sie kurz stocken und führte ihr vor Augen, wie wenig Zeit vergangen war, seit der tote Junge noch ein Kind gewesen war. Sie ließ die Finger in die ausgeleierten blauen Ärmel gleiten. Bestimmt hatten seine dürren Handgelenke und Arme weit herausgeragt, als er in seine unterernährte, verspätete Pubertät hineingewachsen war. Sie nahm das Oberteil, drückte es an ihre Nase und atmete Kaisers darin haftenden leicht holzigen Rauchgeruch ein.
    Jemand hatte so nahe vor dem Jungen gestanden, dass er diesen Duft ebenfalls eingeatmet, dass er den warmen, verängstigten Atem auf seiner Haut gespürt hatte. Jemand hatte so nahe vor ihm gestanden und dann eine Kugel in die kindlich glatte Stirn gejagt. Tränen brannten in Clares Augen.

    »Was hat ihm sonst noch gehört?«, fragte sie Sylvia.
    Das Mädchen deutete auf das Fenstersims: Eine gezackte Spiegelscherbe, ein gelber Kamm, ein Topf Vaseline. Eine blaue Schüssel stand auf dem

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