Blutrose
dem schlaffen Mund sickerte. Das kalte Auge ihrer Kamera blitzte in Lazarus’ zerschmettertes Gesicht. Die Schnur, eine Nylonwäscheleine um die Handgelenke, war so verknotet, dass sie sich weiter zuzog, falls sich das Opfer zu befreien versuchte. Sie war in der Mitte durchtrennt worden, und die Hände des Jungen, hinter denen sich die blutigen Fesselungsmale tief in beide Handgelenke gegraben hatten, lagen zwischen seinen Knien. Clare erlebte im Geist jenen Augenblick mit, in dem Lazarus aufgegangen war, dass dies kein Spiel mehr war, und in dem er um sein Leben zu kämpfen begonnen hatte.
»Schauen Sie sich die Schnur an«, sagte sie. Tamar hob die fröhlich wirkende blau-weiße Leine an. Die Enden um die Handgelenke waren sauber abgetrennt.
»Hier ist sie ausgefranst«, sagte Tamar und deutete dabei auf das längere Verbindungsstück, mit dem die Hände vermutlich auf seinem Rücken gehalten worden waren. »Mit einem anderen Messer durchgeschnitten. Dem gleichen wie bei Kaiser Apollis.«
»Zwei Waffen«, folgerte Clare. »Zwei Tatorte. Zwei Menschen? Oder ein einziges Verbrechen in zwei Teilen?«
»Hier ist nirgendwo Blut«, meinte Tamar. »Also wurde er nicht hier erschossen, und wir haben tatsächlich Ihre zwei Tatorte.« Sie legte die Hand auf die Haut des Jungen. Sie war kalt, der Körper erschlafft. Sie versuchte einen seiner Finger zu bewegen. Er wurde bereits steif.
»Es sieht nicht so aus, als wäre er schon so lange tot, dass die Totenstarre sich schon wieder auflöst«, sagte Clare. »Es gibt keine sichtbaren Hinweise auf Zersetzungsprozesse. Allem Anschein nach wurde er gestern Abend erschossen.«
Eine Woche nachdem Kaiser Apollis in ein Auto geklettert und in die Wüste gefahren worden war, um am Montag zur Schau gestellt zu werden. Jetzt hatten sie den hier gefunden. Das Freitagskind. Liebend und gebend, wie es in dem Kinderreim hieß.
Tamar deutete auf den Pullover. »Darunter werden wir sein zweites Erkennungszeichen finden.« Sie schob das blutige Gewebe nach oben und entblößte die Rippen, die in einem eingefallenen Bauch über zierlichen Hüften endeten. Das Fleisch, glatt wie das eines Mädchens, war mit einer Folge entschlossener, tiefer Messerschnitte aufgeschlitzt worden. Tamar ließ den Pullover wieder sinken.
»Einer mit nichts, eine Zwei, eine Drei und jetzt eine Fünf«, stellte Clare fest.
»Bitte, lieber Gott, mach, dass da keine Nummer vier auf uns wartet.« Tamar stemmte eine Hand in ihren Rücken und richtete sich wieder auf. Sie wandte sich an Karamata. »Haben Sie nach einer Waffe gesucht?«
»Habe ich«, sagte er. »Ich habe die Hände von beiden auf Schmauchspuren geprüft. Nichts. Schmauchspuren würden noch vier Stunden nach dem Abfeuern an den Händen einer lebenden Person festzustellen sein.«
»Wenn sie sich nicht zwischendurch die Hände wäscht«, schränkte Clare ein.
»Habe ich auch geprüft«, sagte Karamata. »Kein Hinweis darauf, dass einer von beiden sich die Hände gewaschen hätte.«
»Messer?«, fragte Clare.
»Nur das hier.« Karamata hielt ein kleines Taschenmesser hoch. »An der Klinge hingen Biltong-Fasern, sonst nichts.«
»Wer hat ihn gefunden?« Tamar ging zu dem verloren dastehenden Paar hinüber.
»Ich.« Das war das Mädchen. »Ich habe auch die Polizei gerufen.«
»Wie heißen Sie?« Tamar zog einen Notizblock heraus.
»Ich bin Chanel«, erwiderte das Mädchen. »Das ist Clinton.«
Tamar wandte sich an den Mann. »Warum haben Sie nicht angerufen?«
»Er hatte Angst«, sagte Chanel und bedachte den Mann mit einem Blick von vernichtender postkoitaler Klarheit. »Er wollte verschwinden, aber das Motorrad ist kaputt.«
Van Wyk spazierte zu dem Motorrad. »Das fährt allerdings nirgendwohin«, bestätigte er. »Jemand hat die Benzinleitung durchgeschnitten. Sie können von Glück reden, dass es Ihnen nicht wie ihm ergangen ist«, er deutete auf Lazarus’ Leichnam, »und Ihr Hirn in der Wüste verspritzt wurde.«
Das Mädchen schauderte, und Tamar legte eine Decke um ihre Schultern. Unter dem verschmierten Make-up lag das verschreckte, vor Angst und Kälte verzerrte Gesicht eines Kindes.
»Was haben Sie hier draußen gemacht?«, fragte Tamar. »Das ist militärisches Sperrgebiet.«
»Er wollte hier rauskommen.« Chanel deutete auf den aschfahlen Mann.
»Warum hierher?«, wandte sich Tamar an Clinton.
»Um der alten Zeiten willen.«
»Warum ausgerechnet hierher, und warum ausgerechnet heute?«, hakte Clare nach.
»Da gibt es
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