Blutrose
während sie sich anzog. Jeans, Anorak. Draußen war es bestimmt kalt. Sie war gerade bei der zweiten Tasse, als van Wyk in seinem Viersitzer-Pickup vor ihrer Tür hielt. Er reichte ihr ein Päckchen Zwieback und eine Trinkflasche. Clare biss ein Stück des rauen Trockengebäcks ab.
»Danke.« Sie hätte nicht gedacht, dass sie hungrig war.
»Meine Mutter macht sie.«
Clare hätte auch nicht gedacht, dass van Wyk Familie haben könnte. Wenn ihr Gehirn schon in Form gewesen wäre, hätte sie ihn eventuell danach gefragt. Stattdessen blieb sie stumm und schaute zu, wie die Straßen an ihnen vorbeizogen.
Tamar wartete schon auf sie. Bis auf das Licht in der Küche lag ihr Haus im Dunkeln. »Ist Elias schon draußen?«, fragte sie, noch während sie auf die Rückbank kletterte.
»Er hat den Anruf entgegengenommen, Captain«, antwortete van Wyk. »Und er ist gleich rausgefahren.«
»Ist ein Krankenwagen unterwegs?«
»Karamata meinte, den bräuchte es nicht.« Van Wyk umfuhr die schlafende Stadt. »Außerdem wäre es unmöglich, einen dorthin zu bekommen.«
Die Straße gabelte sich an der Saline, die weiß unter den Flutlichtern leuchtete. Van Wyk bog in die dunkle Kluft des Deltas. Er raste über die gewundene Staubstraße und geriet nie ins Zögern, welche Abzweigung er nehmen musste und an welcher er vorbeirasen konnte. Schließlich bog er links ab, auf eine dichte Baumgruppe zu. Der Weg wurde schmaler, und die Tamarisken blendeten die Sterne aus. Van Wyk bremste. Vor ihnen war ein Tor, die einzige Bresche in einer endlosen Girlande aus Stacheldrahtrollen. Clare konnte mit Mühe das Schild »Danger/Gevaar« ausmachen.
»Wo sind wir hier?«, fragte sie.
»Auf einem ehemaligen Militärgelände«, erklärte ihr Tamar. »Früher war das ganze Delta Armeegebiet. Das Gelände hier war so lange gesperrt, dass die Menschen es praktisch vergessen haben.«
»Nur nicht diese kleinen Liebesvögel«, schränkte van Wyk ein. Er schaltete die Suchscheinwerfer ein, die in einer engen Reihe auf dem Dach der Kabine thronten wie bösartige Augen und jetzt die Lichtung mit blendend weißem Licht überschwemmten.
Ein windhunddünnes Mädchen kauerte auf den Knien und
hatte eine Jacke über ihren Rücken gelegt. Aus ihren Augen sprühte Trotz. Fünfzehn, dachte Clare. Sechzehn, wenn man beide Augen zudrückte. Ein Mann stand neben seinem Motorrad. Als er tief an seiner Zigarette zog, blitzte sein Ehering auf. Pferdeschwanz, an die vierzig. Das sprichwörtliche Kaninchen im Scheinwerferlicht. Frau und Kinder abgeschoben für den kurzen Kitzel eines anschmiegsamen Frauenkörpers in seinen Händen. Der tote Junge lehnte am Rand des Lichtkreises zusammengesunken an einem Baumstamm. Ein Szenenfoto aus einem Horrorfilm, bis Karamata aus dem Schatten trat und Bewegung in das Stillleben brachte.
»Elias«, sagte Tamar im Aussteigen, »rufen Sie Helena Kotze an, und richten Sie ihr aus, ich brauche Sie diesmal gleich. Den hier obduzieren wir noch heute Nacht.«
»Wurde er bewegt?« Clare näherte sich vorsichtig dem Leichnam.
Karamata schüttelte den Kopf.
Tamar reichte Clare ein Paar Latexhandschuhe und streifte ebenfalls ein Paar über, bevor sie neben dem toten Jungen in die Hocke ging. Ein Kind, das sich nach einem Spiel erschöpft zum Spaß an einen Baum gelehnt hatte. Man hatte ihn mit Riempie festgebunden, mit den gleichen geflochtenen Lederstreifen, die auch Kaiser Apollis’ Leichnam auf der Schaukel gehalten hatten.
»Das gleiche Tuch bei dem hier.« Tamar hob den halb durchsichtigen Stoff an und leuchtete mit der Taschenlampe in das verwüstete Gesicht des Jungen, auf den in weitem Erstaunen geöffneten Mund und auf die Stirn, die nur noch aus Knochenscherben und versengtem Fleisch bestand.
»Lazarus.« Der Schock des Wiedererkennens traf Clare wie ein Magenschwinger.
»Lazarus Beukes«, bestätigte Tamar. »Sein Vorstrafenregister wegen kleiner Diebstähle ist lang genug, um einen Pullover daraus zu stricken.«
»Was hat er für eine Geschichte?« Clare wünschte, sie hätte sie schon früher gehört.
»Er hatte eine Mutter, die ihn wirklich liebte, wenn sie nüchtern genug war, um sich daran zu erinnern, dass es ihn gab«, erzählte Tamar. »Aber die verschwand vor ein paar Jahren. Seither hat er auf der Müllkippe gelebt.«
Tamar umkreiste den Leichnam und widerstand dabei der Versuchung, die Lider über den trüben Augen zu schließen und die Flüssigkeit wegzuwischen, die aus seiner Stirn, aus den Augen und
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