Blutrose
haben, die Müllkarren würden durch die Gasse hinter der Schule fahren.«
»Stimmt«, sagte Tamar.
»Und dass die Frau, mit der wir sprachen und die ihre Wäsche aufhängte, ausgesagt hat, sie hätte nichts gehört?«
»Richtig.«
Clare trat wieder an die Pinnwand. »Als ich mit Helena Kotze aus dem Kuiseb zurückfuhr, wo Lazarus gefunden wurde,
sah ich zum Beispiel eine Familie auf ihrem Eselskarren nach Hause fahren. Ich kann mir durchaus vorstellen, dass jemand, der im Haus und vor dem Fernseher sitzt, so einen Eselskarren nicht hört.« Sie deutete auf einen kleinen Dunghaufen auf dem Foto. »Sehen Sie das hier?«, sagte sie. »Eselskot, direkt neben dem Loch im Zaun. Sie müssen genau dort vorbeigekommen sein, aber wir haben gar nicht daran gedacht, sie zu befragen.«
Riedwaan war immer noch verwirrt. »Wer benutzt Eselskarren?«
»Die Topnaars«, antwortete Clare. »Das Wüstenvolk. Ihre Siedlungen sind auf den Luftaufnahmen markiert. Hier.« Sie deutete auf eine Reihe schwarzer Kreuze. »Wenn du genau hinschaust, kannst du ihre Baracken erkennen. Da drin ist es höllisch heiß. Ich habe einfach die Müllsammler und die Topnaars nicht zusammengebracht. Aber natürlich sind sie es, die alles Brauchbare sammeln, um dadurch das bisschen Geld zu verdienen, das selbst sie zum Überleben brauchen.«
»Das ist aber mit einem relativ hohen Risiko verbunden«, schränkte Riedwaan ein.
Clare drehte sich um und sah ihn an. »Nicht wenn du nichts zu verlieren hast.«
»Ihr unsichtbarer Mann?«, meinte Tamar zweifelnd. »Ein Topnaar?«
»Wer bewegt sich sonst mit einer solchen Leichtigkeit durch die Namib?«
»Aber ein Wüstennomade passt nicht zu deinem Profil«, merkte Riedwaan an. »Die sind genauso arm wie die toten Kinder.«
»Das stimmt«, bestätigte Clare, »aber sie würden definitiv wissen, wer in den Kuiseb geht und wer ihn verlässt. Sie würden alles sehen.«
»Aber würden sie nicht zur Polizei gehen?«, fragte Riedwaan.
»Nicht unbedingt«, meinte Tamar nachdenklich. »Sie leben am Rand der Gesellschaft und werden ständig weiter hinausgedrängt, verfolgt von der Armee, zum Schweigen gebracht von der Verwaltung, die sie sesshaft machen und zur Schule gehen lassen möchte, damit sie leichter zu kontrollieren sind. Die Topnaars wissen aus jahrhundertelanger Erfahrung, dass der Außenseiter am Ende immer der Dumme ist. Wenn sie eine Leiche fänden, würden die Topnaars sie bestimmt so weit wie möglich von ihrem Land wegschaffen.«
»Sie würden vor allem keine Aufmerksamkeit erregen wollen.« Riedwaan sah wieder auf die Aufnahme.
»Tertius Myburgh hat mir von einem alten Mann namens Spyt erzählt. Virginia Meyer arbeitete früher mit ihm zusammen, weil er die Wüste kannte wie seine Handflächen. Kennen Sie ihn?«, wandte sich Clare an Tamar.
»Ich habe von ihm gehört«, sagte Tamar. »Er lebt sehr zurückgezogen und meidet andere Menschen wie die Pest. Er redet mit niemandem.«
»Da sind mir dann doch Straßengangster lieber«, murmelte Riedwaan.
»Ich finde, wir sollten versuchen, mit ihm zu reden«, sagte Clare. »Wie dumm von mir, dass ich nicht gleich rausgefahren bin.«
»Wir können es versuchen.« Tamar klang skeptisch. »Wir müssen Riedwaan sowieso die Gegend zeigen, da könnten wir gleich zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen. Ich hole van Wyk und Elias. Treffen wir uns in fünf Minuten draußen?«
Clare nickte.
»Dein Profil passt nicht«, sagte Riedwaan wieder, als Tamar den Raum verlassen hatte.
»Und wenn es zwei Menschen wären?« Clare sagte das ganz leise.
Riedwaan zog seine Jacke an. Plötzlich war ihm kalt. »Zwei?«, fragte er nach.
»Einer, der sie umbringt …« Clare klopfte mit dem Stift gegen die Fensterscheibe und starrte hinaus in die Wüste. »Warum auch immer. Und ein anderer, der sie zur Schau stellt.«
39
»Spyt wird uns hören, bevor wir auch nur in seine Nähe kommen«, sagte Elias Karamata. »Wenn er nicht gefunden werden möchte, finden wir ihn nie.«
Clare, Riedwaan, Tamar und Karamata hatten van Wyk auf dem Revier zurückgelassen. Seine taktvolle Erklärung war, dass er überprüfen wolle, was die südafrikanischen Experten sonst noch übersehen hatten. Nachdem sie Riedwaan gezeigt hatten, wo die Toten gefunden worden waren, waren sie von einer Topnaar-Siedlung im Kuiseb zur nächsten gefahren, und jede war ihnen trockener und staubiger erschienen als die vorherige. Eine alte Frau, deren verwitterte Haut die gleiche Textur aufwies wie ihr
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