Blutrose
Einzelgänger sein, vielleicht auch ein Schichtarbeiter, sodass niemand mitbekommt, wann er kommt und geht.« Clare trank ihren Kaffee aus. »Ein Killer wie aus dem Lehrbuch für einen Fall wie aus dem Lehrbuch.«
Riedwaan ging ans Fenster und blickte auf die flache, konturlose Stadt. »Wie kommen die Menschen hier von einem Fleck zum anderen?«, wollte er wissen.
»Zu Fuß oder mit dem Fahrrad, wenn sie arm sind«, sagte Clare. »Und mit dem Geländewagen, wenn sie wer sind.« Sie legte den Kopf schief und sah auf ihre Anordnung. »Er müsste ein Auto oder Zugriff auf ein Auto haben. Genug Geld, um diese Kids in seinen Wagen zu locken und um ihnen etwas zu essen zu kaufen. Und etwas zu trinken. Ich würde ihn auf fünfunddreißig, vierzig schätzen. Vielleicht noch etwas älter. Möglicherweise ist er jemand, der in den Kindern den Irrglauben weckt, sie könnten ihn übers Ohr hauen, andererseits würden sie mit jedem mitgehen, der genug Bares dabeihat.«
»Auch nachdem ein paar von ihnen umgebracht wurden?«, fragte Riedwaan. »Er muss wie jemand aussehen, dem sie vertrauen können, in dem sie keine Gefahr sehen.«
»Stimmt.« Clare sah wieder auf. »Jemand, den sie nicht als Bedrohung empfinden. Außerdem müsste der Wagen aussehen wie alle Autos hier.«
»Ein weißer Pickup mit zwei Sitzbänken, wenn das, was ich bis jetzt gesehen habe, als Maßstab dienen kann«, meinte Riedwaan. »Was könnte diese Exzesse ausgelöst haben?«
»Etwas löst sich, und in dem Mann reißen alle Bande der Selbstbeherrschung. Schon hast du ihn: einen Mörder, der eine ganze Stadt heimsucht.« Sie betrachtete die Bilder von Lazarus’ blutigem Gesicht. »Jedenfalls versteht er zu verführen. Es gibt keine Hinweise auf einen Kampf, dabei kommt der Tod aus nächster Nähe. Eigentlich müsste beim Abfeuern Blut auf die Hände und das Gesicht des Mörders spritzen. In gewisser Hinsicht ein exquisiter Rausch, in Anbetracht der Symbolik: Vereinigung und Erfüllung. Schräg.«
»Nachdem du damit zu tun hast, musste es ja schräg werden, Clare.« Riedwaan betrachtete die Aufnahmen der toten Jungen. »Und du bist sicher, dass es ein Einheimischer ist?«
»Wer das auch tut, kennt sich hier sehr gut aus. Sonst könnte er nicht so lange unsichtbar bleiben.« Sie ging vor der Pinnwand auf und ab, um dann vor dem Foto von Kaiser Apollis’ verhüllter Gestalt stehen zu bleiben. »Mein Profil hat immer noch Schieflage«, stellte sie fest.
»Wie kommst du darauf?«
»Die Zurschaustellung der Morde. Herman Shipanga hat behauptet, dass die Leichen als eine Art Warnung zur Schau gestellt würden. Es ist nicht nur der Rausch, den Abzug durchzudrücken. Unser Mörder will durch diese Leichen zusätzlich etwas mitteilen. Vor allem nach dem Fund von Lazarus’ Leiche musste man sich fragen, wie er es schaffte, draußen im Kuiseb genau dort zu sein, wo Chanel auf den Toten stoßen würde. Das lässt mich nicht los: Jemand kennt diesen Ort, er weiß, wo wer in dieser endlosen Wüste Rast machen wird, er kennt ihre Geheimnisse und kann damit arbeiten. Ich frage mich …«
Die Tür schwang auf und Clare verstummte. Es war Tamar. »Haben Sie gut geschlafen, Riedwaan?«, fragte sie. »Fühlen Sie sich gut untergebracht?«
»Gute Bar, gutes Bett, gutes Essen. Danke.«
Clare schien kaum zu bemerken, dass Tamar zu ihnen gestoßen war. »Was ist das ?«, sagte sie mehr oder weniger zu sich selbst. Sie wühlte in den Fotos und zog eines heraus, das Tamar in der Gasse hinter dem Schulhof aufgenommen hatte, wo Kaiser Apollis gefunden worden war. Sie fuhr herum. »Riedwaan?«
»Ihnen auch einen guten Morgen, Clare«, sagte Tamar.
Riedwaan inspizierte das Foto. »Sieht für mich nach einem Dreckklumpen aus«, sagte er verwundert und reichte das Bild an Tamar weiter.
»Das ist Scheiße.«
»Was hast du gesagt?« Riedwaan sah Clare verdattert an. Sie fluchte nur im Notfall. Ein körniges Tatortfoto war bestimmt kein Notfall.
Clare ging an den Tisch, schlug den Ordner mit den Vernehmungsprotokollen auf und blätterte durch die Transskriptionen. »Weißt du noch, was du mich vorhin gefragt hast, Riedwaan?«
»Welche Frage meinst du? Das waren mindestens zwanzig.«
»Die Frage danach, wie sich die Menschen hier fortbewegen.«
»Ja, mit dem Fahrrad, zu Fuß, mit dem Auto … Das war nur eine Routinefrage.«
»Okay«, sagte Clare. »Sieh dir das an.« Sie zog eine sorgfältig getippte Seite heraus. »Tamar, Sie erinnern sich doch, dass Sie mir erzählt
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