Blutrose
Umhang, hatte ihnen erklärt, sie wisse, wo Spyt lebe. Sie hatte sie durch ein Geflecht ausgetrockneter Flussläufe zu einem gottverlassenen Schlupfwinkel geführt.
»Es sieht so aus, als würde er allein hier leben«, stellte Clare fest. Anders als in den übrigen Siedlungen gab es hier keine Hunde, Ziegen und keine Kinder, die sie mit riesigen Augen aus ihren Wellblechhütten heraus anstarrten.
Das Lager lag gut versteckt unter einem vorstehenden schwarzen Felsen. Rostende Metallhaufen und alte Reifen lagen verstreut zwischen kleinen Pyramiden aus Flaschen und alten Dosen.
»Corned Beef.« Tamar hatte eine alte Dose aufgehoben. »Alte Armeeverpflegung. Die hier muss zwanzig Jahre alt sein.«
Nichts regte sich auf den schwarzen Felsen. Hoch über ihnen
trieb ein einsamer Geier über den verwaschenen blauen Himmel. Die Augen und Ohren der Namibwüste und ihr stummer Zeuge. Genau wie Spyt, dachte Clare, in einem Versteck verborgen, das selbst ein geübtes Auge nur mit Mühe ausfindig machen würde.
»Eitsma miere, Spyt«, rief Tamar Damases auf Nama, der uralten Muttersprache, die sie mit Spyt teilte. Der Widerhall ihrer Stimme blieb die einzige Antwort.
Die alte Frau führte sie um die Flanke des Felsüberhangs herum zu einer kleinen Höhle. Ein Steinring umgab den Unterschlupf und kennzeichnete die Grenze zwischen der Wüste und Spyts Behausung. Das Epizentrum der häuslichen Einfriedung wurde von einer Feuerstelle markiert, deren Kohlen halb mit Sand zugeschüttet waren.
»Noch heiß.« Riedwaan hatte die Hand darübergehalten. In Clares Nacken prickelte es, als würde sie beobachtet. Sie sah sich um; außer einer Eidechse, die sich auf einem Stein sonnte, war nichts zu entdecken.
Ein flaches Borkenoval war neben der Höhle zurückgelassen worden. Karamata hob es auf und wiegte es in den Händen hin und her, bis er die Spreu der wilden, von Spyt offenbar aus einem Termitenhaufen gelesenen Grassamen von den Körnern getrennt hatte. Er blies die Spelzen weg, die von der Brise erfasst und in einem winzigen Staubstrudel über den Sand getragen wurden. Die Spreu landete im Feuer und ließ die Kohlen kurz aufglühen. »Daraus kann man Brei machen«, erläuterte er Clare und Riedwaan. »Mit seinem kaputten Gebiss muss Spyt Babybrei essen.«
»Sein Name bedeutet auf Afrikaans ›Reue‹«, merkte Riedwaan an. »Wie ist er dazu gekommen?«
Tamar gab die Frage an ihre verschrumpelte Führerin weiter, die sich in einer angeregten Erzählung auf Nama ergoss. Clare verstand kein einziges Wort, aber der Singsang der tonalen, von komplexen Klicklaut-Folgen akzentuierten Sprache
bewirkte, dass sie sich von dem emotionalen Fluss der Geschichte mitreißen ließ.
Tamar übersetzte: »Sie sagt, als er noch ein Kleinkind war, ging seine Mutter auf einer Farm am Rand der Namib arbeiten. Spyt aß Ätznatron, der sich in seinem Mund auflöste. Darum brachte ihn seine Mutter zurück in die Namib. Dort lebten sie abgeschieden zu zweit, bis sie starb. Von da an lebte er allein. Es war seine Mutter, die ihn das Jagen und das Verstecken gelehrt hatte.«
»Wahrscheinlich war das Militär deshalb immer auf ihn aus«, meinte Karamata.
»War es das?«, fragte Riedwaan.
»O ja.« Karamata deutete auf den Sand, der sich bis zum Horizont hinzog. »Eine Weile hat er als Spurenleser für die Armee gearbeitet. Sie wollten alles über die Wüste erfahren; sie wollten sein Wissen an sich reißen, es besitzen und für alle Zeiten geheim halten.«
»Sehen wir uns um«, schlug Tamar vor. »Allerdings glaube ich nicht, dass er auftauchen wird.«
Clare trat in die kleine Höhlenbehausung. Sie war schmal und jenseits des Lichtflecks am Eingang stockfinster. Es gab nur wenige Dinge darin, einen Schlafsack, eine Ledertasche, ein Paar selbst gemachte Schuhe mit Reifenstücken als Sohlen. Von einem Haken hingen Stoffstreifen. Clare strich über das Gewebe. Es war in der Hitze ausgetrocknet, doch der grüne Streifen war immer noch zu erkennen. Genau wie der verblasste Aufdruck.
»Sieht nach alten Armeedecken aus«, sagte Riedwaan, der Clare in die Höhle gefolgt war. »SWATF. South West African Territorial Force. Die Buchstaben ergeben zusammen den grünen Streifen.«
Der Muff von Holzrauch und menschlichem Schlaf, der sich hier über Jahre angestaut hatte, raubte ihnen den Atem. Mit klopfendem Herzen trat Clare wieder ins Freie. Es war
eine Erlösung, wieder an der frischen Luft zu sein, doch die irrlichternden Gedanken wollten sich auch dort
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