Blutrot wie die Wahrheit
Sie mich bitte nicht falsch, er ist im Grunde ein herzensguter Mensch, aber manchmal kann er wirklich unerträglich sein.â
âMr. Watts â das ist der Büchsenmacher, den Emily konsultiert hat â hat uns gesagt, dass sie die Lefaucheux verkaufen wollte.â
Vera seufzte und nahm einen tiefen Schluck Kaffee. âSie wollte Geld, um ihre Reisen fortsetzen zu können. Ich glaube, sie sah darin auch eine gewisse Ironie des Schicksals, dass sie ihr Vorhaben nun ausgerechnet mit Orvilles geschätztem Revolver finanzierte.â
âWussten Sie, dass der Revolver sich als eine recht wertlose Nachbildung herausgestellt hatte?â
Betrübt nickte Vera. âEmily war ganz auÃer sich.â
âAm Tag zuvor waren Sie und Emily Ihrem Bruder ja zu Mrs. Kimballs Haus in der Mount Vernon Street gefolgtâ, drängte Nell behutsam weiter.
âEmily war zu mir gekommen, ganz aufgeregt. Sie hatte zufällig mit angehört, wie ihr Vater sich in seinem Arbeitszimmer mit seinem Kammerdiener unterhalten hatte. Burns, der Kammerdiener, hat gesagt, er bräuchte âdie Achthundertâ, weil es Zeit sei, sich mit jemandem namens Clara an irgendeiner StraÃenecke zu treffen. Orville, na ja, der hatte schon den ganzen Nachmittag getrunken und fing jetzt lauthals an, über Virginia Kimball zu schimpfen, sagte, dass sie seine Lefaucheux hätte und er sie sich zurückholen würde. Emily hörte noch, wie Burns meinte, ob er es denn wirklich für angeraten halte, den Dolch mitzunehmen, aber Orville schenkte ihm gar keine Beachtung und stürmte aus dem Haus.â
âUnd sie sind ihm gefolgt, Sie und Emilyâ, sagte Nell.
âWas hätten wir denn anderes tun sollen? Wir hatten furchtbare Angst, dass er sie wegen dieses Revolvers umbringen könnte. Stellen Sie sich nur vor, wie Emily zumute war! Immerhin war das alles ihre Schuld, weil sie den Revolver entwendet hatte, aber Orville ja dachte, dass es Mrs. Kimball gewesen sei. Im strömenden Regen sind wir ihm hinterher gerannt und haben versucht, ihn davon abzuhalten, zu Mrs. Kimball zu gehen, aber er ⦠nun, er hat einige sehr unschöne Dinge darüber gesagt, dass wir uns in seine Angelegenheiten einmischten, und hat uns befohlen, sofort wieder nach Hause zu gehen. Was wir aber nicht gemacht haben. Ich wollte ja, aber Emily lieà sich nicht dazu bewegen, und so ⦠sind wir ihm gefolgt. Ganz leise sind wir hinter ihm her ins Haus â er hat gar nicht gemerkt, dass wir da waren. Und er hat Sachen zu Mrs. Kimball und diesem Thurston gesagt ⦠also nein.â Vera schüttelte den Kopf. âIch dachte noch, wie furchtbar für Emily, dass sie das mit anhören und ihren Vater so sehen muss, diese ⦠schrecklichen Dinge über ihn erfährt.â
âUnd am nächsten Tagâ, fuhr Nell fort, âwollte Emily den Revolver dann verkaufen und musste zudem noch erfahren, dass es sich um ein fast wertloses Imitat handelte.â
Vera nickte. Mittlerweile war es Nacht geworden, der Mond schien nur schwach; im flackernden Licht der Kerzen wirkten ihre hageren Züge weicher als gewöhnlich. âIch sagte Emily, dass es doch keinen Zweck habe und dass sie den Revolver zurücklegen sollte in das Arbeitszimmer ihres Vaters. Aber sie meinte, sie hätte darüber nachgedacht und vielleicht sei die Waffe doch nicht gar so wertlos. Zwar wüsste sie, dass es nur ein Imitat war, aber ihr Vater wüsste es ja nicht.â
âWas meinte sie damit?â, fragte Will.
âDas hat sie mir nicht gesagt. Sie hat mir nicht ganz vertraut, glaube ich. Das hat mich zwar verletzt, aber es war gewiss zum Besten. Ich würde mir ja nur Sorgen gemacht haben, wenn ich davon gewusst hätte.â
Nell lehnte sich gespannt vor. âWenn Sie wovon gewusst hätten?â
âWas sie vorhatte.â Bekümmert blickte Vera auf die Schale mit den Himbeeren, suchte sich eine aus und steckte sie sich in den Mund. Sie verzog leicht das Gesicht, während sie aÃ, und wischte sich dann die Fingerspitzen an einer Serviette ab. âAllerdings wusste ich selbst nichts davon bis ⦠ja, es ist ungefähr eine Woche her. Ja, genau eine Woche, letzten Samstag. Da habe ich in Emilys Zimmer eine Schiffsfahrkarte von Cunard auf ihrem Schreibtisch liegen sehen. Erste Klasse an Bord der RMS Propontis, die am 26. Juni nach Liverpool in See stechen sollte. Ich fragte sie, woher
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