Blutrot wie die Wahrheit
âGleich nachdem wir von der Beerdigung nach Hause gekommen sind. Ich hatte es geheim halten wollen, wie ich an die Waffe gelangt bin, aber er sagte zu mir, er wisse bereits, dass Emily sie genommen hätte. Am Tag zuvor hätte er es herausgefunden. Ich bat ihn, ihr nicht zu sagen, dass ich es war, die sie ihm zurückgegeben hatte. Emily und ich ⦠wir stehen uns sehr nah, und mir wäre es unerträglich, würde sie glauben, ich ⦠ich hätte sie hintergangen oder â¦â
âGewiss dochâ, pflichtete Nell ihr bei.
âIhr Bruder wusste da ja bereits, dass der Revolver nur eine Nachbildung istâ, stellte Will fest. âHat er Ihnen das auch gesagt?â
âOh ja. Er sagte, dass Emily ihn hatte verkaufen wollen, und es geschehe ihr ganz recht, dass die Waffe sich dann als wertlos herausgestellt habe. Das solle ihr eine Lehre sein, meinte er, nur wünsche er, es hätte ihn nicht siebzehntausend Dollar gekostet. AuÃerdem sagte er, dass er nicht gedenke, irgendjemand wissen zu lassen, dass der Revolver nicht der von Stonewall Jackson sei oder dass Emily es war, die ihn gestohlen hatte â es wäre eine Schande für die ganze Familie, wenn all das herauskäme. Aber ich ⦠ich glaube, er würde es gutheiÃen, dass ich Ihnen beiden davon erzählt habe. Ich habe es ja für Emily getan â um Ihnen zu erklären, dass sie es wirklich nur aus einer Laune ⦠aus jugendlichem Ãbermut getan hat. Mit dem Mord an Mrs. Kimball hatte das nichts zu tun.â
Nell und Will lehnten sich beide wieder zurück und sahen sich recht ernüchtert an.
Mit einem schweren Seufzer meinte Will: âGenau da liegt das Problem, Miss Pratt. Mrs. Kimball und Miss Gannon wurden beide mit einem groÃkalibrigen Revolver erschossen â Kaliber 44 oder 45 â, der Metallpatronen als Munition verwendet. Allzu viele Waffen dieses Typs gibt es nicht. Und eine der wenigen ist nun mal leider Mr. Pratts Lefaucheux.â
Vera legte den Kopf schräg und runzelte die Stirn. âNein, es war ⦠War nicht Mrs. Kimballs eigene Pistole die Tatwaffe? Eine Remington irgendwa â¦â
âNein, ich fürchte nichtâ, sagte Nell beschwichtigend. âEs war zweifelsohne eine Lefaucheux oder ein Revolver ganz ähnlichen Typs.â
âUnd zu dem Zeitpunkt, da Mrs. Kimball und Fiona Gannon ermordet wurden, war Emily im Besitz der Lefaucheuxâ, fügte Will hinzu.
âAber ⦠warum?â, fragte Vera. âWarum um alles in der Welt sollte sie das getan haben? Sie hatte doch überhaupt nichts gegen Mrs. Kimball â in gewisser Weise bewunderte sie sie sogar. Und mit Fiona war sie befreundet.â
âMeine einzige Vermutung istâ, meinte Nell, âdass die Fünftausend, an die sie so leicht gelangt war, sie nach noch mehr verlangen lieÃen, weshalb sie zu Mrs. Kimballs Haus ging, als sie meinte, niemand sei zu Hause, und sich auf die Suche nach weiteren Einkunftsquellen machte â den Schmuck oder vielleicht gar das Rote Buch.â
Verständnislos sah Vera sie an. âDas Rote Buch?â
âEin ⦠eine Art Tagebuch, aus dem sie gewiss eine ordentliche Summe hätte schlagen könnenâ, erläuterte Will.
âSie wusste, wie man sich unbemerkt Zutritt zum Haus verschaffen konnteâ, fuhr Nell fort, âhatte sie ihren Vater doch am Abend zuvor die Hintertür erwähnen hören. Dann schlich sie sich in den ersten Stock hinauf, aber wie sich herausstellen sollte, war Fiona doch zu Hause, und von da an geriet ihr Plan auÃer Kontrolle.â
Zunehmend verstört und zutiefst betroffen starrte Vera blicklos vor sich hin. âOh jeâ, flüsterte sie mit bebender Stimme. âEmily, Emily â¦â
15. KAPITEL
Um vom Hause der Pratts zum Boston Common zu gelangen, mussten Nell und Will lediglich der Beacon Street in östlicher Richtung folgen und dann die Charles Street überqueren, die den Public Garden vom Common trennte. Nell war schon unzählige Male in dem weitläufigen, ländlich anmutenden Park gewesen â das Haus der Hewitts in der Colonnade Row ging auf den Common hinaus â, doch noch nie des Nachts. Trotz des lauschigen Lichtes, in das die StraÃenlaternen die gepflasterten Wege tauchten, kam es ihr doch so vor, als würden sie Arm in Arm geradewegs in ein schwarzes Nichts hineinlaufen. Nell war sehr froh, dass Will bei ihr
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