Blutrot wie die Wahrheit
dann nur, um mich wissen zu lassen, wie satt er uns dahergelaufene Iren hat, die den richtigen Amerikanern die besten Arbeitsplätze wegnehmen, weil wir nämlich allesamt vor Kurtz buckeln und dienern und ihm die Stiefel lecken.â
Genau so dachten auch die meisten der Hewittschen Dienstboten über sie, ging es Nell durch den Kopf â dass sie sich irgendwie Violas Gunst erschlichen habe, damit die ihr eine Stelle gebe, die sie lächerlich weit über das erhob, was ihr eigentlich zustünde. âIch kann mir beim besten Willen nicht vorstellenâ, versicherte Nell dem Detective, âdass Sie jemandem die Stiefel lecken, und sei es der Polizeipräsident höchstpersönlich.â
Cook lachte leise und nahm einen Schluck Tee. âUnd Sie wollen wirklich keinen?â, fragte er und deutete auf seine Tasse.
Sie schüttelte den Kopf. âDann könnte ich nicht schlafen.â Aber wahrscheinlich würde sie heute ohnehin sehr lange wach liegen und sich darüber den Kopf zerbrechen, wie sie Brady beibringen sollte, dass seine Nichte nun auch offiziell schuldig befunden worden war, eine Diebin und Mörderin zu sein.
âSkinner und seine Leuteâ, fuhr Cook fort, âalso praktisch alle Detectives aus unserer Abteilung, würden mir ja nicht mal die Uhrzeit sagen. Dasselbe gilt übrigens auch für die andern hier in der Behörde â den stellvertretenden Präsidenten, die Schreiber, Vollzugsbeamten, Superintendents ⦠Oh nein, stimmt ja gar nicht: Der Superintendent von Pawnbrokers ist in Ordnung â netter Kerl namens Ebenezer Shute. Bevor ich Mrs. Cook geheiratet und mit dem Trinken ganz aufgehört habe, haben wir uns öfter mal zusammen ein Pint genehmigt. Ach ja â¦Â jetzt sehe ich ihn allerdings kaum noch, weil er natürlich tagsüber Dienst hat.â Cook seufzte.
âKurtz selbst muss aber doch sehr viel von Ihnen haltenâ, meinte Nell, âsonst wären Sie ja wohl kaum hier.â
âSchon, aber wissen Sie, das macht mich bei den andern auch nicht gerade beliebter. Ach, zum Teufel mit denen!â, meinte er und hob seine Tasse. âIm nächsten Leben wirdâs ihnen vergolten werden.â
âWar Detective Skinner noch hier, als Sie heute Nachmittag zur Arbeit kamen?â, fragte sie.
âJa, war er. Noch ungefähr eine Stunde. Sein Büro ist ja gleich nebenan.â Cook deutete mit dem Kopf linkerhand von Nell. Die Wand, ebenso wie die schmale Tür in der Mitte, waren dicht mit Fotografien, markierten Karten, Zetteln, Flugblättern, vergilbten Zeitungsartikeln und Suchplakaten gepflastert. âSind keineswegs so dick, wie sie aussehen, diese Wändeâ, bemerkte Cook. âMan hört ganz schön viel von nebenan, weshalb man sich auch kaum noch auf seine Arbeit konzentrieren kann, wenn Skinner da drin mit jemandem spricht.â
Nell horchte auf. âSie meinen, Sie bekommen jedes Wort mit, was da geredet wird?â
âNein, nein â¦â, wiegelte Cook ab, ânur, wenn sie ganz laut werden, bei einem Streit oder so. Ansonsten bekomme ich nur gedämpftes Stimmengewirr mit. Verstehen kann ich da nichts. Lenkt aber trotzdem ganz schön ab, kann ich Ihnen sagen.â
âHaben Sie zufällig mitbekommen, ob ihn heute Nachmittag jemand aufgesucht hat?â, wollte Nell wissen.
âNatürlich. Seine Bürotür vorn auf den Gang raus hat ein Fenster â so wie meine auch. Als ich hier ankam, war gerade dieser Paragrafenreiter, der Mrs. Kimball vertritt, bei ihm drin.â
âOrville Pratt?â
âGenau der. Und als Skinner mich auf dem Gang vorbeigehen sieht, steht er auf und lässt die Jalousie runter, als hätte er Angst, ich könnte mich hinstellen und ihm jedes Wort von den Lippen ablesen. Elendes kleines Frettchen.â
âKonnten Sie denn etwas durch die Wand hören?â
âNee, die haben ganz leise gesprochen. So weit ich weiÃ, war das auch kein auÃergewöhnlicher Besuch. Pratt war ja nun mal der Anwalt des Opfers. Ich habe nur gestutzt, weil Skinner es so eilig hatte, die Jalousie runterzulassen, als ob da etwas nicht mit rechten Dingen zugehen würde. Bei jedem anderen Anwalt hätte ich mir selbst da wohl noch nichts bei gedacht, aber Orville Pratt war mir noch nie ganz geheuer. Er ist einer der reichsten Männer Bostons â ach was, wahrscheinlich einer der reichsten im ganzen Land â, und da
Weitere Kostenlose Bücher