Blutrot wie die Wahrheit
Mr. Pratt und Mrs. Kimball sich gestritten hatten, worüber indes Sie sich ausschweigen, dass er sie während des Streits bedroht und deshalb verhaftet und des Mordes angeklagt werden solle?â
Kein Wunder, dass Skinner ihn nicht ernst genommen hatte. Da kommt ein zwar recht harmlos wirkender, aber dennoch zutiefst suspekter alter Herr daher und bezichtigt Orville Pratt des Mordes, ohne dafür auch nur einen stichhaltigen Beweis zu liefern. Derweil stehen einige der reichsten und mächtigsten Männer Bostons, wahrscheinlich einschlieÃlich Pratt, bei Skinner Schlange und bezahlen ihn dafür, den Fall ohne Erwähnung ihrer Namen zum Abschluss zu bringen und tunlichst dafür zu sorgen, dass das Rote Buch niemals wieder ans Tageslicht kommt.
âIch habe es selbst gehörtâ, wiederholte Thurston so prononciert, als könne er ihnen die Worte in ihre unverständigen Schädel hämmern, wenn er nur deutlich genug sprach.
Nell und Will wechselten einen kurzen Blick.
âWarum haben Sie bei der Anhörung nichts davon gesagt?â, fragte Nell dann.
âDas habe ich ja versucht, aber dieser Skinner hat mir einfach das Wort abgeschnitten. Er hat sich an den Coroner gewandt und gesagt: âSoll er nicht nur die Fragen beantworten, die ihm gestellt wurden?â Und der Coroner meinte, das stimme, und dass er jetzt keine weiteren Fragen mehr an mich hätte und der Protokollant solle meine âüberflüssigen Bemerkungenâ streichen.â
âWenn man Ihnen aber zu sprechen erlaubt hätteâ, fragte Nell, âwas hätten Sie dann gesagt?â
âDass Pratt am Tag vor dem Mord zu Virginia gekommen ist und ihr gedroht hat, sie umzubringenâ, erwiderte Thurston so gereizt, als empfinde er es als eine ziemliche Zumutung, etwas zu wiederholen, das er doch längst klargestellt hatte.
âNicht auch, worüber sie an jenem Tag gestritten hatten?â, fragte Will ungerührt nach. âOder worum es bei ihrer Meinungsverschiedenheit ging oder â¦â
âVoltaire meinte einmal sehr trefflich, das Geheimnis eines Langweilers bestehe darin, stets alles zu sagen.â Entschieden stellte Thurston seine Tasse ab, nahm abermals die GieÃkanne zur Hand und humpelte zurück zu seinen Pflanzen.
Will stand auf und stellte sich neben Thurston. âIch verstehe sehr gut, dass Sie Mrs. Kimball schützen wollenâ, begann er. âSie möchten auf jeden Fall vermeiden, dass ganz Boston ⦠gewisse Dinge über sie erfährt â Dinge, die ein schlechtes Licht auf sie werfen könnten. Aber Sie möchten auch, dass der Mörder gefasst und verurteilt wird. Ihr Dilemma ist nun jedoch, dass sich das eine eben nur erreichen lässt, wenn man dafür das andere opfert. Habe ich recht?â
Thurston, der völlig reglos dastand und die GieÃkanne über einer Bambuspflanze verharren lieÃ, derweil Will seine kleine Rede hielt, wandte sich nun um und sah ihn an.
âWir wissen bereits von dem Roten Buchâ, sagte Will. âUnd von den Erpressungen.â
Thurston schloss die Augen; er schien förmlich in sich zusammenzusacken. âWie haben Sie davon erfahren? Etwa von Foster?â
âEr wusste, dass er uns vertrauen kannâ, meinte Will. âUnd das sollten Sie auch. Uns interessiert nur, wer an jenem Tag wirklich geschossen hat, damit Fiona Gannon von der Schuld an einem Mord freigesprochen wird, den sie nicht begangen hat. Ich verspreche Ihnen, von Gentleman zu Gentleman, dass ich alles in meiner Macht Stehende tun werde, um Virginia Kimballs Ruf zu schützen. Ich kannte Mrs. Kimball, und ich mochte sie sehr. Vor einigen Jahren gab es sogar mal eine Zeit, in der ich meinte, sie zu lieben.â
Mit Augen, die wie schimmernde blaue Murmeln glänzten, betrachtete Thurston Will. âJetzt erinnere ich mich wieder an Sieâ, sagte er leise, ein wenig heiser. âSie waren es, der ihr diese schönen weiÃen Rosen ins Boston Theatre gebracht hatte. Und aus irgendeinem Grund hat sie Sie Doc genannt.â
âWeil ich Arzt bin ⦠Arzt warâ, sagte Will.
âSie hat sie mir gegeben, die Rosen, weil ⦠nun ja, weil dieser elende Federici â¦â Er neigte sein Haupt vor Nell. âVerzeihen Sie, Miss ⦠Sweeney, nicht wahr?â
âJa, ganz genau.â
âSie hatte just an jenem Morgen ein Telegramm von il conte bekommen, in dem er mitteilte, soeben
Weitere Kostenlose Bücher