Blutrot wie die Wahrheit
sich nicht sicher, ob dies Brudermann galt oder ob nicht vielleicht Kaffee und Cognac ihm auf den Magen geschlagen hatten. âWiderwärtig. Ein Kraut kauender Gorilla. Kein Stil, keine Finesse und keinerlei Reputation. Sie hat sich um die Weihnachtszeit herum mit ihm eingelassen. Mir hat ein Blick auf ihn genügt, und das habe ich ihr auch gesagt. âEr ist ein geistloser Barbar, Virginiaâ, habe ich zu ihr gesagt, und sie meinte: âIch weiÃ. Aber ist er nicht göttlich?â Nach all den alten Herren wäre ein geistloser Barbar genau das, was sie jetzt brauche. Und sie bekam, was sie wollte. Doch das war längst nicht alles. Felix hatte eine recht ⦠aggressive Auffassung von lâamour.â
Will, der eben die Karaffe abermals entkorkte, sah auf. âWie aggressiv?â
Thurston seufzte, nippte an seinem Kaffee. âAm Anfang gefiel es ihr, mehr oder minder. Aber Felix wusste einfach nie, wann es genug war. Als er ihr dann doch zu grob wurde, bat sie ihn zu gehen und nicht mehr zu kommen. Was er auch tat â allerdings erst, nachdem er so heftig zugeschlagen hatte, dass sie mit voller Wucht gegen den Bettpfosten stürzte.â
Will fluchte leise.
âDer Bluterguss hielt sich ganze zwei Wochenâ, fuhr Thurston fort. âSie hat versucht, es mit Schminke zu kaschieren, aber man sah es dennoch.â
âWann war das?â, wollte Nell wissen. âWann hat er sie geschlagen?â
âVierzehnter Februar â sein Geschenk zum Valentinstag. Seitdem hatte sie ihn nicht mehr gesehen, erst wieder auf dem Ball der Pratts Ende April.â
âAber â¦â, wandte Nell ein, âhatte sie auf dem Ball nicht zu ihm gesagt, dass er âneulichâ seine Taschenuhr auf ihrem Nachttisch habe liegen lassen?â
Thurston nickte und lachte vergnügt. âSie hatte davon gehört, dass an jenem Abend seine Verlobung bekannt gegeben werden sollte, und da meinte sie, sie könne nicht einfach tatenlos zusehen, wie irgendein argloses Mädchen â nicht einmal so eine dumme Gans wie Cecilia Pratt â sich mit diesem ârabiaten Teutonenâ vermähle. Sie wusste, dass man sie deswegen verachten würde, noch dazu, da sie es in aller Ãffentlichkeit sagte, aber sie meinte, nur so lieÃe sich Eindruck auf so ein junges dummes Ding wie Cecilia machen. Zudem es natürlich auch eine fantastische Gelegenheit war, Felix zu bestrafen. Und was das âneulichâ anbelangte, so dachte sie ⦠Wie sagte sie noch mal? âDie Bereitschaft einer Dame, ihrem Mann zu verzeihen, steht zumeist in genau umgekehrtem Verhältnis zur Aktualität seiner Verfehlungen.ââ
âDeshalb dieser skandalöse Auftritt auf dem Ball?â, fragte Nell. âUm Felix eins auszuwischen, indem sie Cecilia vor ihm warnte?â
âAch, du liebe Güte, nein! Das war eher ein Anliegen von untergeordnetem Interesse. Eigentlich war es Virginias Absicht, Orville Pratt ordentlich unter Druck zu setzen. Er ignorierte nämlich beharrlich ihre Briefe, obwohl ihre Forderungen für einen Mann seines Vermögens lediglich Kleingeld waren. Ganz der dünkelhafte, bornierte Anwalt â ein widerlicher Kerl und so erbärmlich.â
âMomentâ, meinte Nell. âSie hat auch Orville Pratt erpresst?â
âSie hat es versucht.â
âDas heiÃt, dass sie und Mr. Pratt â¦?â
âOh jaâ, sagte Thurston. âSeit ungefähr drei Jahren, seit sie seine Mandantin war und er diese Ländereien für sie zu Geld gemacht hat. Kleiner Vorschuss, sozusagen. Ich glaube, dass er ihr im Hinblick auf ⦠ihre Beziehung sein Honorar erlassen hat. Aber vor ein paar Monaten hatte er sich eine neue Geliebte genommen â auch eine Schauspielerin, aber viel jünger â und seitdem jegliches Interesse an Virginia verloren.â
âWer ist die Neue?â, wollte Will wissen.
âDaisy Newland. Neunzehn Jahre alt und eine erbärmliche Schauspielerin. Lieber würde ich sterben, als sie für eines meiner Stücke zu besetzen. Sie hat allerdings gewisse ⦠Vorzüge, die manchen Regisseuren zu gefallen scheinen â und manchen Mäzenen. Pratt hat ihr eine Suite im Tremont House angemietet, nur ein paar Häuser von seinem Zuhause entfernt. Er ist eben ein Mann, der sich auch seine vergnüglichen Ausschweifungen noch so bequem und effizient wie möglich einrichtet. Ich
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