Blutrote Schwestern
heißt: Falls er sich überhaupt daran erinnert, mir das Ding vermacht zu haben.«
Scarlett und ich grinsen gleichzeitig. Pa Reynolds – der Mann, der sich um uns gekümmert hat, der Scarlett in die Geheimnisse der Jagd eingeführt hat, der Mann, der uns nach Großmutters Tod aufgezogen hat, wenn unsere Mutter nicht da war – hat jetzt Alzheimer. Soweit ich weiß. Jedenfalls erkennt er kaum jemanden, der ihn besuchen kommt. Es tut weh, darüber nachzudenken, dass Pa Reynolds, der ein wandelndes Lexikon über den Fenris und den Wald war, sich nicht einmal mehr daran erinnern kann, wer er ist. Trotzdem lächeln wir, Scarlett und ich. So wie Silas. Weil es eines der Dinge ist, derentwegen man nur weinen kann, wenn man sie nicht auf die leichte Schulter nimmt.
Silas dreht sich zu mir um, atmet aus. »Danke für das Abendessen, Rosie.«
Ich nicke. »Jederzeit.«
Silas winkt und geht. Kurz darauf höre ich seinen Wagen auf die Straße rumpeln.
Scarlett setzt sich neben mich, schweigt einen Moment. Ich weiche ihrem Blick aus. Nur weil mich Silas irgendwie benommen gemacht hat, heißt das nicht, dass ich vergessen habe, wie sauer ich auf sie bin.
»Rosie? Los, komm. Sei mir nicht böse.«
Ich schweige verbissen. Klette springt auf meinen Schoß, und ich kraule ihn unter dem Kinn, bis er zu schnurren beginnt.
»Ich konnte nicht anders«, sagt Scarlett offen und verschränkt die Arme.
Ihre Stimme ist weicher als sonst. Ich seufze, setze Klette auf den Boden und wende mich ab, um in mein Schlafzimmer zu gehen. Meine Schwester weiß, dass ich ihr verzeihen werde. Ich verzeihe ihr immer. Ich muss einfach. Das zählt zu den Dingen, die selbstverständlich sind, wenn einem jemand das Leben gerettet hat.
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Kapitel 3
Scarlett
I ch wache im Morgengrauen auf, obschon ich erst um kurz vor vier in die Federn gefallen bin. Reglos liege ich im Bett und starre die ausgeblichene Blümchentapete an, verfolge die kleine Linie der Glockenblumen vom Boden bis zur Decke. Dieser Raum gehörte einst unserer Mutter, und ich habe mir die Tapete nicht ausgesucht. Für meinen Geschmack ist sie viel zu ländlich und mädchenhaft. Mit einem Seufzen versuche ich, wieder einzuschlafen, aber es hat keinen Zweck. Ich bin schon immer ganz gut mit drei Stunden Schlaf ausgekommen. Schlafe ich länger, habe ich Alpträume. Nein, keine Alpträume, glaube ich. Flashbacks: Der Fenris, wie er unsere Tür zerbricht. Meine Großmutter, die auf Französisch schreit. Seine Zähne auf meinen Armen, meinen Beinen, meinem Gesicht.
Schlimm genug, um jedermann in die Schlaflosigkeit zu treiben.
Ich rolle mich auf die Seite, rümpfe die Nase. Eine zweite Dusche wäre gut. Ich kann immer noch den Fenris an mir riechen. Glaube ich.
Manchmal vermag ich nicht mit Sicherheit zu sagen, ob der Geruch wirklich noch an mir klebt oder ob er mich eher im Geiste verfolgt.
Der Fenris. Ich seufze. Das Einzige, was schlimmer ist, als Rosie wütend zu machen, ist das Wissen, dass ich es wiedergutmachen muss, wenn ich Rosie wütend gemacht habe. Tue ich es nicht, dann stimmt irgendetwas nicht. Es ist schwer zu erklären, aber wenn sie wütend ist, fühlt es sich so an, als hätte mich jemand falsch zusammengesetzt. Wie ein Bücherregal, in dem eine Reihe Bücher auf dem Kopf steht. Es gelingt mir einfach nicht, meine Schwester nicht zu beschützen – die Vorstellung abzuschütteln, sie könnte einen Fehler machen. Einen winzigen Fehler nur – und alles wäre vorbei. Was für eine Jägerin wäre ich, wenn ich es nicht einmal schaffen würde, das einzige überlebende Mitglied meiner Familie zu beschützen? Darum jage ich: um die Monster zu töten, die Leben zerstören und Familien ruinieren. Ich weiß nicht genau, wann es aufhören wird – so etwas wie eine Ziellinie gibt es nicht, außer natürlich, ich töte jeden einzelnen Fenris auf dieser Welt. Das fühlt sich an wie der Traum vom Lottogewinn und ist am Ende doch nicht mehr als ein Traum. All die Angst, die Dunkelheit … fort.
Ich schwinge die Beine über die Bettkante, schleiche über die ausgetretenen Dielenbretter und steige über jene, von denen ich weiß, dass sie knarren. Violettes Sonnenlicht fällt durch das kleine achteckige Fenster am Ende der Diele. Deckenbalken und Türknäufe werfen Schatten auf den Boden, betupfen ihn mit Licht, einem Waldboden gleich. Im Haus ist es still, aber draußen singen im Dickicht die ersten Vögel, und ich kann die tiefen, grollenden Geräusche der Rinder hören.
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