Blutrote Schwestern
ich und lächle, so gut ich kann. »Außer in mein Zimmer, natürlich.«
»Wieso? Erstichst du mich dann mit einem Küchenmesser?« Sie grinst, während ich das Messer auf Oma Marchs Nachttisch lege.
»Vielleicht«, antworte ich.
Rosie lacht, aber es klingt traurig, gedämpft, hier, in diesem Raum, dieser Gruft, gefüllt mit Staub und Krimskram und schwerer, drückender Luft. Die Gardinen sind zugezogen, das Bett ist gemacht, die Kleidung in den Schubladen gefaltet. Wir betreten diesen Raum nicht. Zumindest nicht oft. Rosie nimmt einen silbernen Bilderrahmen in die Hände und blickt von Oma Marchs durchgelegener Matratze zu mir hoch, wie ein Reh, das nicht sicher ist, ob es fliehen soll.
Auch ich lasse mich auf das Bett sinken und lehne mich über ihre Schulter, weil ich wissen will, was für ein Bild sie sich ansieht. Es ist eine alte Schwarzweißaufnahme unserer Mutter und Großmutter, nur wenige Wochen bevor sie im wahrsten Sinne des Wortes fortlief, um zum Zirkus zu gehen. Wer hätte gedacht, dass eine Landpomeranze aus Georgia ein Star am Trapez werden könnte? Idas Foto zu betrachten ist wie der Blick in einen Spiegel – Rosie und ich sehen unserer Mutter unheimlich ähnlich. Dunkles Haar, grasgrüne Iris, scharf zulaufende Brauen und Körper, so kerzengerade wie ein Brett.
»Ich mag das Bild. Es ist wie ein Vorher-Foto«, sage ich.
»Bevor sie anfingen, sich zu streiten, und Mama anfing, sich zu, ähm … verabreden.«
Das ist nett ausgedrückt. Es war noch nie ein Geheimnis, dass Rosie und ich höchstwahrscheinlich verschiedene Väter haben. Eigentlich nehmen wir an, dass wir noch mehr Geschwister irgendwo haben, aber da Mama schon seit zwei Jahren nicht mehr hier war, bleibt es eine Vermutung.
Sie kehrte zurück, nachdem wir angegriffen wurden, kam aber nicht damit klar – nicht mit dem Tod von Oma March, nicht mit meinen Narben … Es war einfacher für sie, die Stadt zu verlassen. So wurden aus Wochen Monate, aus Monaten eine Saison und aus mehreren davon schließlich Jahre. Es war einfacher für sie, ihre Töchter das Gewicht des Todes alleine tragen zu lassen.
Rosie atmet aus, es klingt mutlos. Sie legt sich das Bild in den Schoß und lässt den Blick durch den Raum wandern. »Wie lange noch, bis wir anfangen müssen, Sachen aus diesem Zimmer zu verkaufen?«
Ich seufze. »Noch eine ganze Weile. Da liegen immer noch eine ganze Menge Sachen von Mama auf dem Dachboden herum, die wir loswerden können.«
Rosie und ich haben alles verkauft, von antiken Uhren bis zu Gemüse, um etwas Geld dazuzuverdienen. Einmal hat Rosie einen Job in einem Café angenommen, aber es ist unmöglich, zu arbeiten und zu jagen. Wir hatten Studienkonten, aber unsere Mutter hat das Geld für Alkohol und Drogen verprasst, kurz nach Oma Marchs Tod. Wir haben diesen Raum kaum betreten, obwohl ich weiß, dass der Tag kommen wird, an dem wir uns entscheiden müssen, ob wir Omas Sachen behalten oder Werwölfe jagen. Natürlich müssen wir jagen. Das ist unsere Pflicht, jetzt, da wir aus der Höhle heraus sind.
Aber es ändert nichts daran, dass es weh tut, zu wissen, dass wir die Sachen unserer toten Großmutter eines Tages werden hergeben müssen. Was, so überlege ich laut, wenn ich das Gedächtnis verliere, wie Pa Reynolds? Wird es dann noch irgendetwas geben, das mich daran erinnert, dass es Oma March überhaupt gegeben hat? Irgendetwas, das mich daran erinnert, weshalb ich mein Leben der Jagd gewidmet habe?
»Das spielt keine Rolle, glaube ich«, sagt Rosie. »Ich kann mich an einige Sachen sowieso kaum erinnern. Trotzdem weiß ich … irgendwie, dass sie wichtig sind.«
»Es ist wichtig.« Ich lehne mich sanft gegen sie. »Es ist wichtig,
weil
du dich
nicht
erinnern kannst.«
Rosie zuckt mit den Schultern, streckt die Zehen gen Boden und dreht die Ecke des gewobenen blau-weißen Vorlegers um. Ich schaue weg. Der Vorleger ist der einzige Gegenstand im Raum, den Oma March nicht hier hingelegt hat. Wir mussten ihn kaufen, um den rotbraunen Fleck zu verbergen, der weder mit Bleiche noch mit heißem Wasser zu entfernen war. Ich schaue ihn mir nicht an, aber Rosie schiebt den Vorleger jedes Mal beiseite, wenn wir in diesem Raum sind. Ganz so, als könne diese Stelle ihr helfen, sich besser an diesen Augenblick zu erinnern. Dieser Blick auf das getrocknete Blut – mein Blut, das Blut des Fenris und das Blut von Oma March. In ihrer Erinnerung ist alles verschwommen, so hat sie es mir jedenfalls mal erzählt. Sie
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