Blutrote Schwestern
ihn seufzen, ehe er die Treppe nach unten geht.
Ich atme aus, setze mich auf den Rand der Duschwanne und verberge den nassen Kopf in den Händen. Die Scham kehrt zurück, und das Schreien in mir findet nur ein kleines Ventil, das es besänftigt, sanft wie ein Schmetterlingsflügel: das Gefühl in meinem Herzen, das Silas dort zurückgelassen hat.
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Kapitel 5
Scarlett
A ls ich Rosie wecke, ist es sechs Uhr morgens. Sie krabbelt triefäugig aus dem Bett, ich haste um sie her und treibe sie zur Eile an. Wir müssen die Suche nach dem Wolf so früh wie möglich beginnen, bevor wir nur noch der Spur seiner Toten folgen können.
»Iss«, sage ich zu Rosie, als sie in den Küchenstuhl sinkt. Vor acht richtet man am besten nur einzelne Wörter an sie. Ich schiebe ihr einen Teller Toast mit Erdbeermarmelade hin, sie greift fahrig danach und nimmt einen Toast, während ich meinen Fuß auf dem Küchentresen abstütze und mich nach vorne lehne.
Ich dehne mich, spanne und entspanne die Muskeln in Beinen und Armen, lasse mein Beil von der linken in die rechte Hand wirbeln. Obschon ich immer noch wütend bin, kann ich nicht bestreiten, dass ich mich freue. Die Jagd ist nicht per se ein großer
Spaß,
aber sie ist
richtig.
Ich muss zugeben, dass mich die Jagd zusammen mit Rosie in besonderer Weise erfüllt. Ein wenig fühlt es sich so an, als würde die lange Liste der Unterschiede zwischen uns dann nicht mehr existieren. Wir sind gleich gekleidet, bekämpfen denselben Feind, besiegen ihn gemeinsam … Es ist, als wäre ich in diesem Moment sie – diejenige von uns, die nicht von Narben bedeckt ist. Und als verstünde sie in diesem Augenblick, was es bedeutet, ich zu sein. Es ist anders, als mit Silas zu jagen – er und ich sind Partner, nicht Teile desselben Herzens.
»I hab mm Meher gehärft«, sagt Rosie schließlich. Ich drehe mich zu ihr um, eine Augenbraue angehoben. Sie räuspert sich und lehnt sich im Stuhl zurück, den Toast in der Hand. »Ich habe meine Messer geschärft«, wiederholt sie und zieht dabei einen der Dolche mit Knochengriff aus ihrem Gürtel. Die Klinge schimmert, als ein Strahl der Morgensonne durch unser Küchenfenster fällt.
»Wann?«, frage ich.
»Letzte Nacht. Ich bin aufgeblieben. Hab mir den Film noch mal angesehen, meine Messer geschärft und unsere beiden Mäntel gewaschen.«
»Sie sehen großartig aus«, antworte ich und meine es auch so. Ich weiß, Rosies Handlungen sind ein Friedensangebot – es ist ungewöhnlich für sie, ihren Schlaf für irgendetwas zu opfern. Meine Schwester nickt durch ein gewaltiges Gähnen hindurch.
Es ist sieben Uhr dreißig, als sie endlich die ersten Lebenszeichen zeigt. Sie lässt die Dolche zwischen ihren Fingern kreisen und wirft sie ein paarmal auf eine Zielscheibe, die wir auf die Rückseite der Eingangstür gemalt haben. Rosie konnte nie besonders gut mit dem Beil umgehen, aber ich muss zugeben, dass sie ihre Dolche zu tödlichen Waffen macht. Sie wirft jeden mehrere Male, und ihre schläfrige Benommenheit schwindet.
Meine Schwester besprüht uns beide mit einigen Spritzern Parfüm, das nach Zuckerwatte riecht, und hilft mir dann, mein Haar auf einer Seite festzustecken, um mein fehlendes Auge zu verbergen. Sie legt schweres Make-up auf – dunklen Lidschatten, knallroten Lippenstift und leuchtendes Rouge –, in dem Versuch, sich so zu verwandeln, dass der Fenris sie nicht wiedererkennt. Schweigend mustern und überprüfen wir uns gegenseitig: Waffen, Mäntel, Haar, glitzernder Lippenstift, Parfüm. Alles Teil des Köders.
Rosie bedeutet mir, mich umzudrehen. Sie weiß, wo jede einzelne Narbe ist, und zupft an meiner Kleidung, um die größten zu verbergen. Danach überprüfe ich, ob ihr Top tief genug gezogen ist und ihr Haar sich an den richtigen Stellen lockt. Wir spielen dieselbe Rolle – wir tun es nur auf sehr unterschiedliche Weise.
Silas’ Wagen rumpelt in unsere Einfahrt. Rosie ist vor mir an der Eingangstür, und als sie öffnet, strahlt sie über das ganze Gesicht. Ich beeile mich zu sehen, warum sie so grinst. Als ich es erkenne, seufze und lächele ich gleichzeitig.
»Nur weil wir auf der Jagd sind, bedeutet das nicht, dass wir uns dem Geist des Ganzen verschließen müssen.« Silas lacht.
Seine Wagenscheiben sind mit leuchtend roten und grünen Bildern von Äpfeln und Apfelbäumen bemalt. Auf der Heckscheibe prangen die Worte: »Apfelzeit, tolle Zeit« – solange ich zurückdenken kann, das Motto des Festes.
»Wie
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