Blutrote Schwestern
angespannt zu. Er hat keine Angst, mit Scarlett zu kämpfen – andererseits hat sie auch keine Angst davor, mit ihm zu kämpfen.
»Mit Wissen kommt Verantwortung!«, blafft Scarlett, das Gesicht rot vor Zorn. »Wir wissen, dass wir den Welpen benutzen können, also ist es unsere Aufgabe, das auch zu tun. Wir sollten keine Mühe scheuen, Silas.«
Silas setzt sich hin und murmelt leise. Das Gesicht meiner Schwester leuchtet, die Wut kocht direkt unter ihrer Haut.
»Was hast du gesagt?«, fragt sie mit gefährlich leiser Stimme, und ich bin mir sicher, dass sie ein paar der Worte aufgeschnappt hat, die ich verpasst habe.
Ich überlege mir, die Stille zu beenden, bin mir aber nicht sicher, ob ich es kann. Wem soll ich zustimmen? Meiner Schwester, die wie ein Teil von mir ist, oder dem Jungen, den ich liebe? Ich presse die Lippen aufeinander.
»Ach, vergiss es.« Silas schüttelt den Kopf und greift nach einem Buch.
»Sag es mir!«
Silas atmet aus und sieht Scarlett an. »Lett, vielleicht ist es
deine
Aufgabe. Nicht meine.« Sein Blick flackert genau in diesem Moment in meine Richtung, aber ich schaue weg. Ich kann das nicht zu meiner Schwester sagen. Glücklicherweise bricht sich Scarletts Wut Bahn, und sie bemerkt den Blick nicht.
Ihre Stimme überschlägt sich. »Nicht deine? Nicht
deine?
Weißt du was? In Ordnung. Geh nach San Francisco zurück und mach dir eine schöne Zeit.« Sie atmet aus, während sie die Worte hervorspeit. »Aber es ist ihr Blut an deinen Händen, Silas. Alle Mädchen, die du hättest retten können. Ich hoffe, ihre Leben waren dir eine Gitarrenstunde wert. Ich hoffe, du denkst darüber nach, wie es sich anfühlt, ihre Mütter, Väter und Schwestern zu sein. Ich frage mich, ob du es fertigbringst, ihnen zu erzählen, dass sie gestorben sind, weil du unbedingt lernen musstest, wie man das dämliche ›Twinkle, Twinkle, Little Star‹ spielt.«
»Lett, komm schon …«, fängt Silas an, und ich kann zusehen, wie das schlechte Gewissen anstelle der Frustration sich in seinem Gesicht breitmacht.
Scarlett hebt die Hände und schüttelt den Kopf. Dann mustert sie mich eindringlich.
»Rosie, wie es scheint, sind nur noch du und ich übrig«, sagt sie.
Sie feuert ihre Worte auf Silas ab, doch sie treffen mich. Ich nicke, habe Angst, Silas anzuschauen, und blinzele frustrierte Tränen weg. Scarlett dreht sich stehenden Fußes um, nimmt ihr Beil, geht und schlägt die Tür zu, die von der Zarge abprallt und wieder aufspringt.
Einen Moment lang herrscht Schweigen. Ich schlucke den Kloß in meinem Hals hinunter und eile in die Küche, wo ich die Frühstücksteller so hart in die Spüle werfe, dass ich höre, wie einer von ihnen zerbricht. Ich muss jagen. Sie ist meine Schwester. Ich muss einfach jagen – unschuldige Mädchen werden ermordet,
aufgefressen,
und ich kann etwas dagegen tun.
»Rosie«, sagt Silas mit einem Seufzen.
»Nein«, fahre ich ihn an. »Das hättest du nicht zu ihr sagen sollen, Silas. Sie hat recht – das ist unser Job.«
»Du willst doch genauso wenig wie ich deine ganze Zeit damit verbringen, zu jagen und Wölfe zu studieren. Ich will Scarlett nicht verletzen, aber ich kann nicht so leben wie sie … und du kannst es auch nicht.«
Ich bin mir nicht sicher, ob er sich Scarletts wegen entschuldigt oder an mich appelliert.
»Sie ist meine
Schwester
«, schreie ich mit gerötetem Gesicht. Meine Enttäuschung wird bald dazu führen, dass ich mich in Tränen auflöse, da bin ich mir sicher.
»Deine Schwester«, wiederholt Silas mit unergründlichem Blick, seine Augen sind zwei Obsidian-Tropfen im blau beleuchteten Zimmer. »Nicht du. Du bist ein eigenständiger Mensch, Rosie.« Seine Worte sind nicht unbedingt freundlich, aber geradeheraus.
Ich lache sarkastisch, und einige Tränen entkommen dem Gefängnis meiner Wimpern, rinnen mein Gesicht hinab und gesellen sich zu meinen Händen im dreckigen Spülwasser. »Wir teilen uns dasselbe Herz«, murmele ich und schüttele mir das Haar aus dem tränennassen Gesicht. Dasselbe Herz, zerrissen, damit ich länger in Sicherheit in unserer Mutter bleiben konnte, während Scarlett sich mit ihrem Körper vor meinen stellte. Ihr Körper vor meinem, so dass ich länger in Sicherheit war, anstatt mich dem Rachen eines Monsters zu überlassen. Ihr Körper hat mich immer beschirmt, immer war sie es, die verletzt wurde, die in Stücke geschnitten und zerhackt wurde, während ich immer noch mit beiden Augen sehen und mir Gedanken
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