Blutrote Schwestern
an.
Ich greife mir wieder Klette und trotte in den kleinen Schlafraum, den Scarlett und ich uns teilen. Hinter mir höre ich, wie Silas sein T-Shirt auszieht und die Decke auseinanderfaltet. Ich frage mich, ob er wohl gut schlafen wird. Ob es überhaupt Sinn ergibt, wenn ich es versuche? Ich krabbele ins Bett – Scarletts Seite ist schmerzhaft leer. Dann greife ich nach ihrem Kissen, vergrabe das Gesicht darin und atme den Geruch ihres Haares ein – er unterscheidet sich ein winziges bisschen von dem meinigen. Wie kann ich weiterleben, wenn sie mich hasst? Tränen brennen mir in den Augen, rinnen mir erneut die Wangen hinab, und der Selbsthass nagt an mir. Licht stiehlt sich von der Straße her in mein Zimmer, als Silas die Gardine vorsichtig zur Seite zieht. Ich höre einen Moment lang auf zu weinen. Er lehnt an der Mauer, die Arme über der nackten Brust verschränkt, das Haar fällt ihm in die Augen. Fast lautlos gleitet er in den schmalen Zwischenraum zwischen meinem Bett und der Wand und lässt sich auf dem Boden nieder. Die Knie an die Brust gezogen, senkt er den Kopf, sucht nach meiner Hand und fährt still mit dem Daumen über meine Knöchel.
Ich gleite aus dem Bett, die Laken um meine Beine gewickelt, lasse mich in seinen Schoß sinken und drücke mein Gesicht in seinen Nacken. Er wiegt mich an sich, als hätte er Angst, mich gehen zu lassen. Ich weiß, ich sollte zurückweichen, sollte wieder in mein Bett kriechen, aus Loyalität zu meiner Schwester. Aber da ist etwas, das mich an Ort und Stelle festhält, etwas, das mich nicht vom sanften Heben und Senken seiner Brust oder aus seinen Armen flüchten lässt, die mich halten, als wäre ich etwas sehr Wertvolles. Langsam streicht er mir mit den Lippen über die Stirn.
Ohne zu sprechen, schlafen wir schließlich ein.
[home]
Kapitel 21
Scarlett
W ohin ich soll? Ich weiß es nicht. Keine Ahnung, wohin ich gehen, was ich tun, wem ich mich anvertrauen könnte. Ich spreche nicht mit Fremden, mache keinen Small Talk und rede auch nicht in Fahrstühlen über das Wetter. Also wandere ich durch die Stadt, schweigend, stoisch, während der Morgennebel in die Stadt kriecht und den Boden bedeckt. Selbst die Obdachlosen meiden mich, als würde mich die Aura einer Aussätzigen umgeben. Ich versuche zu jagen, aber irgendwie habe ich Angst davor. Das Pfeil-Rudel weiß, wer wir sind, und ich bin mir nicht sicher, ob ich die Willensstärke oder die Fähigkeiten besitze, sie aufzuhalten, wenn sie mir auflauern. Es wäre einfacher, wenn ich mich ihnen einfach vor die Füße werfen würde.
Der nächste Tag ist genauso.
Und der nächste.
Ich gehe in die Bibliothek und gebe halbherzig Porters Namen in den Computer ein – immer noch keine Ergebnisse. Ich schlafe im Park, zusammengerollt unter den korallenfarbenen Azaleen, meinen Mantel wie ein Laken über mich geworfen. Ein Polizist macht mir einmal Ärger, aber als er mein fehlendes Auge bemerkt, kann ich förmlich sehen, wie sein Mund trocken wird. Er nickt mir zu, sagt, ich solle mir in Zukunft eine andere Schlafstatt suchen, und lässt mich dann allein. Ich geistere umher wie ein gefallenes Mädchen, bin auf dem Sprung, wann immer ich glaube, Rosie und Silas erspäht zu haben. Wann immer ich ein Pärchen sehe, das den beiden zu ähneln scheint, schlägt mir das Herz laut gegen die Rippen. Ich will nicht, dass sie mich finden – aber sosehr ich ihren Anblick fürchte, hoffe ich tief in meinem Inneren doch zu sehen, wie sie lachen, Händchen halten, gemeinsam spazieren gehen. Vielleicht bin ich eine Masochistin. Die beiden zusammen zu beobachten würde mich schmerzen – stechender Neid und das Gefühl, betrogen worden zu sein. Allerdings wäre Schmerz zumindest
irgendwas.
Irgendein Gefühl, das den Nebel durchbrechen könnte, der mich seit Tagen umgibt.
Den Großteil des dritten Tages fahre ich mit der U-Bahn im Kreis, bis mir auffällt, dass ich dieselben Leute nach Hause gehen sehe, die ich vor Stunden auf ihrem Weg zu Geschäften, in den Park oder ins Restaurant beobachtet habe. Ich zwinge mich, an der nächsten Haltestelle auszusteigen, und nehme meine ziellose Wanderung wieder auf. Als ich die U-Bahnstation verlasse, bin ich überrascht, denn in diesem Teil der Stadt war ich noch nie. Allerdings erkenne ich ein Logo auf einem Schild wieder, das mir den Weg zum St.-Vincents-Altenpflegeheim weist – das Pflegeheim, in dem Silas’ Vater lebt. Einen Moment lang drücke ich mich an der Straßenecke herum. Ich
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