Blutrote Schwestern
zu besuchen. Ist das nicht toll?«
Pa Reynolds funkelt sie an. Ich kichere, denn das Funkeln kenne ich. Normalerweise wird es von den Worten »Bist du noch ganz bei Trost, mein Kind?« begleitet. Die Schwester wirkt einen Moment lang verärgert, lächelt mich dann aber an und geht.
Pa Reynolds richtet seinen flatternden Blick auf mich. Ich drehe den Kopf, damit er mein fehlendes Auge nicht bemerkt. Er lächelt, streckt eine zerbrechliche Hand aus, und ich umfange sie mit der meinen. Sie ist weich wie altes Leder.
»Celia«, krächzt er. Seine Stimme ist höher, als ich sie in Erinnerung habe. »Celia, wie schön dich zu sehen, mein Schatz.«
Ich brauche einige Augenblicke, um zu antworten. Nachdem der Schock und der Schmerz vergangen sind. Dieser Mann kennt mich nicht. Als ich ein Baby war, hat er mir ein Schaukelpferd gebaut, er hat Oma March geholfen, mir das Radfahren beizubringen, und ist später nicht ein einziges Mal vor meinen Narben zurückgezuckt. Und nun erkennt er mich nicht. Wie viel schwerer muss das für Silas sein?
»Ich bin nicht Celia«, sage ich sanft. »Ich bin Scarlett, Pa Reynolds. Scarlett March?«
Pa Reynolds starrt mich einen Moment an, nickt dann und lächelt. »Ah, Celia. Meine Liebe.«
Ich seufze und lehne mich im Stuhl zurück, während ich weiter Pa Reynolds’ runzelige Finger in meiner Hand halte. Celia war seine Frau, sein Schwarm an der Highschool. Silas’ Mutter, die starb, als er acht Jahre alt war. Wie kann mich Pa Reynolds mit jemandem verwechseln, den er einmal geliebt hat? Ich sehe überhaupt nicht wie sie aus – sie war blond, zerbrechlich, anmutig … Ich zwinge mich zu schlucken und schüttele den Kopf. Das hier war ein Fehler. Selbst der Blick in seinen Augen ist völlig falsch – er ist nicht mehr die väterliche Figur, von der ich so dringend einen Rat benötige. Eher ein verängstigter Junge.
»Ich glaube, ich sollte jetzt besser gehen«, flüstere ich rauh.
»Oh, Celia, bitte nicht.« Pa Reynolds legt seine andere Hand auf meine und drückt sie herunter. Er schaut mich mit schmerzerfülltem Blick an. »Wir haben es nicht gewollt. Es war nicht unser Fehler, es ist einfach passiert.«
»Ich weiß«, antworte ich schnell, obwohl ich nicht die geringste Ahnung habe, wovon er spricht. »Ich weiß.«
»Es wird ihm dort gutgehen. Meine Eltern werden ihn großziehen. Es wird ihm dort gutgehen.«
»Ganz sicher.« Ich versuche aufzustehen, aber der alte Mann hat einen erstaunlich eisernen Griff. Er fährt mit seinem Daumen über meine Knöchel.
»Celia, bitte. Es gibt keine andere Möglichkeit. Sie werden uns niemals heiraten lassen, wenn wir ihn behalten.«
Ich seufze und beschließe, ihm eine Freude zu machen. »Wen behalten, Pa Reynolds?«
Er hebt die Hand, fährt mit den Fingern durch meine Haarspitzen und ignoriert dabei das Gras und die Blätterreste, die noch darin stecken. »Unser Jakob. Unser kleiner Junge. Er wird glücklich sein, Celia.
Wir
werden glücklich sein.«
Ich halte inne, der Kopf schwirrt mir, während die Puzzleteile sich zusammenfügen. Oder irre ich mich?
»Unser Jakob?«
Jakob ist, soweit ich weiß, Pa Reynolds’ Bruder, Silas’ Onkel. Sicher verstehe ich da etwas falsch. Ich ziehe mein Haar aus seiner Hand.
»Pa Reynolds«, sage ich laut und mit einer Stimme, die mich irritierenderweise an die der Rezeptionistin erinnert, »ich glaube, du bist durcheinander. Lass uns über etwas anderes reden. Wieso erzählst du mir nicht noch einmal die Geschichte, wie Silas im Baum festsaß? Du hast sie immer sehr gern erzählt.« Ich versuche ein freundliches Lächeln aufzusetzen, bin mir aber nicht sicher, ob ich es hinbekommen habe. Statt eines Lächelns präsentiert er mir nun seine gerunzelten Brauen. Er zieht die Hand aus meiner und schiebt seinen Rollstuhl mit überraschender Geschwindigkeit so dicht an mich heran, dass meine Knie die Armlehnen berühren.
»Scarlett. Kleine Scarlett March«, sagt er sanft. Seine Miene verändert sich, wird zum faltigen großväterlichen Gesicht. Er presst die Lippen zusammen und lehnt sich zur Seite, um auf meine Augenklappe zu starren. »Oh, mein Kind. Mein armes Kind. Wie heilen deine Verletzungen?«
»Die sind kein Problem, Pa Reynolds. Lange verheilt.« Wenigstens erkennt er mich jetzt.
»Oh mein … mein Liebling. Es war ganz und gar mein Fehler …« Er bricht ab.
»Natürlich nicht. Du hättest niemals rechtzeitig da sein können.« Ein Schauder durchläuft mich. Pa Reynolds hat selten
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