Blutrote Schwestern
habe seit Tagen mit niemandem gesprochen. Pa Reynolds war immer nett zu uns und hat sich um uns gekümmert, nachdem Oma March gestorben war, bis unsere Mutter kam. Er kennt die Narben bereits, und er starrt mich nicht an. Zumindest hat er das nicht getan, ehe er an Alzheimer erkrankt ist. Vielleicht erinnert er sich gar nicht an mich? Was, wenn er losschreit? Was, wenn ich ihm Angst einjage?
Aber ich kann nicht länger allein bleiben, daher gehe ich um die Ecke zum Pflegeheim, einem gigantischen Kind der späten sechziger in Weiß und Creme. Schwestern in lachsfarbenen Kitteln sitzen vor dem Gebäude auf Bänken beisammen, unterhalten sich und löffeln ihren Joghurt. Selbst auf dem Gehweg weht mir der widerliche Krankenhausgeruch betäubend entgegen – Riechsalz, Latex und Reinigungsalkohol. Ich rümpfe die Nase und ignoriere die neugierigen Blicke der Schwestern, als ich das Gebäude durch die leuchtend weißen Automatiktüren betrete.
»Kann ich Ihnen … helfen?«, spricht mich ein junges Mädchen hinter dem Empfangspult an. Ihr gespieltes Lächeln und ihre Stimme versagen, als sie mich sieht, und der große Spiegel hinter ihr verrät mir, dass das nicht nur an meinen Narben liegt. Mein Haar ist völlig verfilzt, meine Kleider sind starr vor Schmutz und voller Blätter. Ich verziehe das Gesicht und reiße mir die Haare in einen Pferdeschwanz nach hinten und setze die Augenklappe auf, als ich auf sie zugehe. Das ist besser, zumindest ein wenig.
»Hallo«, sage ich, aber meine kaum benutzte Stimme versagt. Ich setze neu an: »Hallo. Ich würde gerne Charlie Reynolds besuchen.«
»Ihr Name?« Die Rezeptionistin hat zu ihrem munter-professionellen Plauderton zurückgefunden.
»Scarlett March.«
»Oh. Sie stehen gar nicht auf Mr. Reynolds’ Besucherliste …«
»Ich bin anstelle von Silas Reynolds hier. Er hat keine Zeit und wollte, dass jemand bei seinem Vater vorbeischaut«, lüge ich.
Die Rezeptionistin kaut einen Moment auf ihrem Stift und zuckt dann mit den Schultern. »Na dann. Hier entlang.« Sie schiebt ein Schild mit der Aufschrift ›Bin gleich wieder da‹ auf das Pult und führt mich durch das Heim – vorbei an Räumen mit Patienten in Rollstühlen, die vor Fernsehern stehen, das Programm aber gar nicht beachten. Andere Räume, in denen die Gardinen zugezogen sind und Ärzte mit alten Menschen in einem verhätschelnden, sanften Tonfall sprechen. Der gleiche Tonfall, den sie auch für Kinder benutzen würden. »Gut gemacht! Und nun noch einen Happs!«
Ich lege die Stirn in Falten und versuche meine Ohren zu verschließen.
»Er ist hier drin«, sagt die Frau schließlich und öffnet die Doppeltüren eines Hinterzimmers mit ihrer Karte. Wir gehen hinein, und ich höre, wie sich die Türen hinter mir schließen. Ich kämpfe den Drang nieder, davonzulaufen.
Der Raum ist braun. Komplett braun. Braune Täfelung, brauner Teppichboden, braune Ledergarnituren. Die einzigen Farbtupfer sind die Patienten, von denen die meisten meergrüne Krankenhauskleidung und Bänder um den Hals tragen, auf denen ihre Namen und medizinische Details stehen. Sie werfen mir nicht einmal einen zweiten Blick zu, und obwohl ich nicht glaube, dass dies aus Höflichkeit geschieht, bin ich ihnen dankbar.
»Besuch für Mr. Reynolds, hier ist Miss March«, ruft die Empfangsdame einem bulligen Pfleger quer durch den Raum zu.
Er sieht mehr wie ein Türsteher denn wie ein Krankenhausangestellter aus, nickt und lächelt und zeigt dann nach hinten, auf einen kleinen Kreis von Rollstühlen.
Auf Pa Reynolds.
Die Rezeptionistin bringt mir einen Stuhl, aber ich kann nicht aufhören zu starren. Wenn die Leute mich sehen, haben sie dann das gleiche Gefühl? Ich sacke in den Stuhl und betrachte Silas’ Vater mit Schrecken. Die Zeit hat dem einst so starken und stolzen Mann übel mitgespielt: Seine Handgelenke wirken zerbrechlich, der Nacken dünn, und die Lippen sind schlaff und feucht. Aufgeregt irrt sein Blick durch den Raum, als suche er schon seit Ewigkeiten nach etwas Bestimmtem, ohne es je zu finden. Er ist einer der wenigen, die keine Krankenhauskleidung tragen, aber die graue Jogginghose und das weiße T-Shirt lassen ihn noch ausgebleichter erscheinen und betonen die Altersflecken, die seine Haut bedecken.
»Mr. Reynolds?«, ruft die Empfangsdame so laut, dass es in meinen Ohren schmerzt. Pa Reynolds dreht sich, um sie anzuschauen, und wippt ein bisschen in seinem Rollstuhl. »Mr. Reynolds, Miss March ist heute hier, um Sie
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