Blutrote Schwestern
Selbstvorwürfen zerfleische, führt kein Weg an der Wahrheit vorbei: dass ich mit Silas zusammen sein will. Vor nur einer Stunde lag ich in seinen Armen und fühlte mich schöner als jemals zuvor. Würde ich das eintauschen, aufgeben für die Jagd? Ich stolpere die Stufen zur U-Bahn hinunter. Nein. Ich kann es nicht zurücktauschen. Nicht jetzt, da ich weiß, wie es ist, geliebt zu werden. Nicht jetzt, da ich aus der Höhle ins Sonnenlicht getreten bin. Allerdings fühlt es sich dadurch nicht fairer an, noch tröstet es mich darüber hinweg, dass meine Schwester mich hasst.
Ich gehe durch das Drehkreuz und suche die schlecht beleuchtete U-Bahnstation nach Scarlett ab. Als ich die übliche Kombination aus Vagabunden und übermüdet aussehenden Bedienungen erblicke, wende ich mich ab.
»Na, verlaufen, Spätzchen?«, sagt eine Stimme.
Ich drehe mich um und stehe vor einem zerlumpt aussehenden Mann, der verschiedene Eimer zusammenräumt, ein abgenutztes Paar Drumsticks in der Hosentasche seiner dreckigen Jeans. »Nein«, antworte ich. »Ich suche nach jemandem, der sich verlaufen hat.«
»Kein Glück?«
Ich schüttele den Kopf. »Bis jetzt nicht.«
Der zerlumpte Mann nickt weise. »Vielleicht ist das Problem, dass sie nicht gefunden werden will.«
»Das befürchte ich.« Mit einem Seufzen werfe ich mein ganzes Kleingeld in den Topf des Mannes. Er hat recht. Scarlett ist nicht wie ich, sie wollte nie gerettet werden. Nicht vor der Jagd, nicht vor den Fenris – und ganz sicherlich nicht von mir.
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Kapitel 19
Scarlett
S obald meine Füße den Gehweg berühren, renne ich los. Tränen schnüren mir den Hals zu, legen sich um meinen Nacken, als wollten sie mich erdrosseln. Passanten starren mich an, aber zum ersten Mal ist es mir egal, dass ich keine Augenklappe in der Öffentlichkeit trage. Ich schieße durch den Verkehr, schiebe mich durch Menschenmengen und versuche vor dem Schmerz, der mich verfolgt, davonzulaufen.
Alles verschwimmt, wird undeutlich, außer dem Gefühl der Leere in meiner Brust und meinen hämmernden Füßen auf dem Pflaster. Ich bin mir nicht sicher, wie lange ich laufe, wie weit ich das Apartment hinter mir lasse. Aber als mein Körper mir schließlich flehentlich zu verstehen gibt, ich solle anhalten, weiß ich eines ganz genau: Es war nicht weit genug. Schweiß rinnt mir über Gesicht und Rücken, an den Füßen bilden sich schmerzhafte Blasen.
Als ich unter einer Eiche zusammenbreche, umfasse ich den Griff meines Beils und stelle erst dann fest, dass ich in den Randgebieten des Piedmont Parks bin. Ich lehne den Kopf an den Baum und ringe so schwer nach Atem, dass meine brennenden Lungen nach Sauerstoff schreien, während die Welt sich um mich dreht.
Atme. Atme einfach.
Einatmen, ausatmen. Ich konzentriere mich auf meinen Atem, damit meine Gedanken nicht wieder zu Rosie und Silas wandern. Der Mond steigt stetig am Himmel empor, aber ich bemerke es kaum.
Atme.
»Lett?«, sagt eine ruhige Stimme.
Wie lange sitze ich schon hier?
Ich beiße die Zähne zusammen.
Nein. Nicht du.
Ich atme.
»
Geh weg,
Silas«, sage ich bestimmt. Ich sehe ihn nicht an, höre seine Schritte im Gras und schaue nach unten, als er vor mir auftaucht und auf die Knie sinkt.
»Lett, bitte. Du bist mein bester Freund. Du bist mein Partner«, sagt er behutsam.
»Und sie ist meine Schwester, Arschloch.«
»Das ist nicht …« Er seufzt. »Wir wollten nicht lügen.«
Es ist bestimmt toll, Teil eines »wir« zu sein. Wut bauscht sich in mir auf wie der Saum meines roten Mantels im Sturm. Ich blicke zu ihm auf, mit glühendem Auge. Silas spannt sich, die Hände ausgestreckt, als wolle er ein wildes Tier beruhigen.
»Du wirst das nie verstehen«, fauche ich. Noch ehe ich mich zusammenreißen kann, stürze ich mich auf ihn und treffe ihn an der Schulter.
Er leistet wenig Gegenwehr, und ich glaube nicht, dass er mit einem Angriff von mir gerechnet hat. Wir rollen rückwärts die kleine Anhöhe hinab und lösen uns auf dem Rasen voneinander. Ich bin vor ihm auf den Beinen und schlage nach ihm, ein gezielter linker Haken in seine schwache Seite. Silas wehrt den Schlag ab, also trete ich und erwische ihn an den Rippen. Er versucht etwas zu sagen, kann aber nur husten, da ich schon wieder zuschlage. Meine Faust auf seiner Nase – Blut. Er knurrt und schlägt zurück, erwischt mich an der Schulter und wirft mich um. Im Fallen strecke ich ein Bein aus und ziehe ihm die Beine unter dem Körper weg. Auch er fällt
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