Blutrote Sehnsucht
der ihr helfen konnte. Ihr Onkel war krank, Mr. Sincai war zweifellos bereits geflohen, und die Dienstboten kuschten vor Erich van Helsing – Ann hatte sich noch nie im Leben so allein gefühlt.
14. Kapitel
S tephan stand im Wald oberhalb Maitlands Abbey, ein noch tieferer Schatten in der dunklen Nacht, und lauschte dem Wind, der durch die Bäume fuhr und Dinge wisperte, die er nicht ganz verstehen konnte. Die Rinde der mächtigen Birke, an der er lehnte, fühlte sich angenehm glatt an seinem Rücken an. Was er nicht begriff, war, warum er im Begriff war, sich in das Kinderzimmer in dem Haus unter ihm zu versetzen. Kilkenny konnte jederzeit erscheinen, vielleicht sogar mit anderen. Der Moment seiner Prüfung war schon beinahe gekommen. Entweder würde er sterben oder Erlösung finden. In dem Gasthof konnte er nicht mehr bleiben, weil Kilkenny ihn dort als Erstes suchen würde. Doch das Hammer und Amboss war der falsche Ort für den letzten – tödlichen – Kampf. Natürlich könnte er die Nächte in der Jagdhütte verbringen. Bestimmt würde der Einzige, der ihm entkommen war, seine Suche dort beginnen. Es war ein abgelegener Ort, perfekt für eine Auseinandersetzung auf Leben oder Tod und weit entfernt von menschlichen Augen. Stephan war sicher, dass niemand sich dem Haus auf weniger als eine Meile nähern würde, nach all den geflüsterten Geschichten, die im Dorf darüber kursierten. Die Tage könnte er in Miss van Helsings Höhle verbringen. Er hatte einen Plan. Es wäre besser, sich auf seine Mission zu konzentrieren.
Und doch war er hier, im Dunkeln und dem zunehmenden Wind, starrte auf ein Kinderzimmer im dritten Stock und wusste, dass er sich dorthin begeben würde. Van Helsing würde vielleicht seine Anwesenheit bemerken, aber dieses Wiesel konnte ihn nicht aufhalten. Falls er ihn ansprach, brauchte Stephan nur seinen Gefährten herbeizurufen und Suggestion anzuwenden, damit Van Helsing sich später an nichts erinnerte. Der Kerl hatte einen erstaunlich schwachen Geist.
Schwach? Wer war schwach? War er selbst nicht schwach genug, um hier zu stehen, anstatt sich einzig und allein auf seine Mission zu konzentrieren?
Warum war ihm dieses zierliche kleine Mädchen so unter die Haut gegangen?
Stephan biss die Zähne zusammen. Er gehörte nicht zu denen, die sich vor der Wahrheit scheuten. Es war, weil sie ihn kannte . Weil sie wusste, was er war, und nicht mit Entsetzen reagiert hatte. Sie wusste alles über ihn. Nun, alles bis auf seine Erfahrungen mit Rubius’ Töchtern, und das war auch besser so. Sie ... verzieh ihm. Er verdiente keine Vergebung, doch sie schenkte sie ihm dennoch, als wäre es das Natürlichste der Welt.
Sogar dazu war sie stark genug. Sie hatte versucht, seine Wunden zu verbinden, unter großer persönlicher Belastung und zu einem hohen Preis für sie. Selbst heute war sie stark genug gewesen, ihn retten zu wollen – und wovor? Vor ein paar Stunden in einer Zelle?
Ah ... sie kannte seine Schwächen. Und sie glaubte, auch Van Helsing kenne sie. Es hatte eine Zeit gegeben, da hätte er jeden umgebracht, der seine Geheimnisse kannte. Bei ihr dagegen lagen die Dinge völlig anders. Eigenartigerweise empfand er es als tröstlich, dass sie über ihn im Bilde war und ihn verstand.
Der Gedanke erstaunte ihn wirklich. Aber sie war ja ebenfalls eine Ausgestoßene, genau wie er. Sie besaß besondere Fähigkeiten, und deshalb lehnten die Leute im Dorf sie ab. Sie war genauso verhasst wie er. Zu Anns Fähigkeiten gehörte, das Gute in den Menschen zu sehen, selbst nachdem sie das Schlimmste über sie erfahren hatte. Und von ihm, Stephan, wusste sie das Schlimmste. Aber würde sie erkennen, was für ein außerordentlicher Vorteil das war?
Ja, der Schwache war er. Er empfand etwas für sie. Was das war, wusste er selbst nicht so genau. Freundschaft? Es war jedenfalls nicht die alles verzehrende, überwältigende Leidenschaft, die er vor fast siebenhundert Jahren für Beatrix empfunden hatte. Miss van Helsing erregte ihn, aber das war nur sein Training bei Rubius’ Töchtern, das sich durchsetzte. Was immer es auch sein mochte, es fraß an ihm und ließ sich nicht verbannen. Es rief eine schmerzliche ... Sehnsucht in ihm wach. Vielleicht, weil er dieses Gefühl noch nie einfach nur so erfahren hatte.
Gefühl? Himmel, Gefühle durfte er sich jetzt wirklich nicht erlauben! Sie würden ihn nur für den bevorstehenden Kampf schwächen. Er konnte es sich nicht leisten, sich noch mehr zu
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