Blutrote Sehnsucht
das sie offenbar beruhigen sollte.
Aber in Anns Kopf drehte sich alles. Wie konnte er in dieses Kloster, in dem er so gelitten hatte, zurückkehren wollen? Würden Rubius und seine Töchter ihn je in Frieden lassen? Sie hatten ihn zu einem Mörder gemacht, dessen sie sich jederzeit wieder bedienen konnten. Stephan dachte, sein Albtraum würde mit Kilkenny und seiner Anhängerschaft zu Ende gehen, doch Ann war sich da nicht so sicher.
Und sie glaubte auch nicht, dass ein Mann, der so gelitten hatte, ihre Liebe je erwidern könnte. Er hatte einmal geliebt – Beatrix –, das wusste Ann. Aber heute? Er betrachtete sie mit zweifelndem Blick. Wahrscheinlich war ihr anzusehen, wie aufgewühlt sie war. Mehr als alles andere auf der Welt wollte sie wissen, was ihm durch den Kopf ging. Sie konnte spüren, wie er seit der Nacht, in der sie ihn angefasst hatte, über seine Erfahrungen dachte: dass er sie mit einer Berührung umbringen könnte.
Aber das kümmerte Ann jetzt nicht mehr. Bevor sie es sich anders überlegen konnte, streckte sie die Hand aus und legte sie auf Stephans. Schockiert blickte er auf, und sie wappnete sich gegen den vernichtenden Hagel der Erfahrungen, der auf sie herniedergehen würde.
Doch er blieb aus.
Natürlich spürte sie Stephans Schock über ihre Berührung, sah auch seine Begegnung mit zweien der Töchter und erkannte nun, dass er sein Blut von ihr abgewaschen hatte und beim Anblick ihres nackten Körpers erregt gewesen war. Sie empfing eine gute Dosis seines stärker werdenden Gefühls für sie. Aber sein Kummer über diese Empfindungen wurde ebenso deutlich wie seine Furcht, dass seine Zuneigung zu ihr ihn in seiner Mission scheitern lassen und ihm die Möglichkeit verbauen würde, Erlösung zu finden. Sie spürte seine Entschlossenheit, diese Mission zu vollenden, gleichgültig, was es ihn kosten und ob er dabei den Tod finden würde.
Stephan entzog ihr die Hand. »Sind Sie ... Ist alles in Ordnung mit Ihnen, Ann?«
Sie blinzelte und nickte, nicht minder überrascht, als er es war. »Ich glaube ... nun ja, vielleicht habe ich schon all Ihre Erfahrungen und Ihre Essenz empfangen. Gerade eben sah ich nur die neuesten Erlebnisse, nichts, womit ich nicht umgehen könnte.« Sie lachte leise. »Wenn ich Sie jeden Tag berühren würde, wäre es vielleicht sogar erträglich.« War es das, was nötig war, um in der Welt zu leben? Musste sie die Menschen, an denen ihr etwas lag, einfach nur oft genug berühren, um nicht von ihrem Wesen und ihren Erfahrungen übermannt zu werden? Wie hatte sie fünfundzwanzig Jahre alt werden können, ohne das herauszufinden? Zumindest hätte sie ihren Onkel am Ende seines Lebens trösten können. Vielleicht könnte sie sogar mit einem Mann intim werden ... Sie krauste die Stirn und dachte an ihre Mutter.
»Hat Sie irgendwas gestört? Sie ... Sie haben doch nicht meine Erinnerungen an Mirso gesehen? Meine Ausbildung?«, fragte er stirnrunzelnd.
Wie lieb von ihm! Er wollte ihr das ersparen.
»Die meisten habe ich gesehen, fürchte ich.«
Er errötete bis unter die Haarwurzeln. »Dann wissen Sie, wie böse und gefährlich ich sein kann. Das ... das muss erschreckend sein für eine unschuldige junge Frau wie Sie. Es tut mir leid.«
»Das muss es nicht«, erwiderte sie lediglich, und es kam von Herzen, denn sie verstand ihn ja. Natürlich verzichtete sie darauf zu sagen, dass er sich Rubius’ Töchtern nicht hätte unterwerfen sollen. Diese Bemerkung stand ihr nicht zu.
Sein Blick glitt über ihr Gesicht. »Aber irgendetwas beunruhigt Sie doch. Woran dachten Sie gerade?«
Ann überlegte, ob sie ihm erzählen konnte, was ihr Herz bewegte. Doch konnte sie dem Mann, den sie so gut kannte, nicht alles sagen? »Ich fragte mich nur gerade, warum meine Mutter den Verstand verlor, als ich gezeugt wurde. Wenn sie ihn doch bereits kannte und akzeptierte und ... ich meine, wenn sie meinen Vater akzeptierte, warum sollten ... eheliche Beziehungen sie dann in den Wahnsinn getrieben haben?«
»Vielleicht hatte sie ihn noch nie zuvor berührt.« Stephans Stimme war wie ein leises Grollen in der zunehmenden Dunkelheit.
Ann blickte durch die vergitterten Fenster in das verblassende Licht hinaus. »Oder vielleicht ... akzeptierte sie ihn doch nicht.« Vielleicht hat Mutter meinen Vater nicht geliebt, dachte Ann. Möglicherweise machte das den Unterschied bei ihr selbst und Stephan. Sie wandte sich ihm wieder zu und streckte die Hand aus, um wieder die seine zu berühren, die
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