Blutrote Sehnsucht
Erwartung erfüllt, als könnte alles Mögliche geschehen. Ann war nicht sicher, was genau sie erwartete, doch sie hoffte jedenfalls, dass er noch blieb.
»Was bringt Sie nach Cheddar Gorge?« Wie absurd! Da stand sie hier und führte sinnlose Gespräche, als wären sie sich auf der Dorfstraße begegnet, obwohl sie doch nur wegwollte, weg von Erich, weg von ihrer Zukunft und all den beängstigenden Möglichkeiten, die sie umzingelten wie Wölfe. Und wieso verspürte sie nicht auch bei Stephan Sincai den Drang, so schnell wie möglich von ihm wegzukommen?
Er schien zu überlegen. »Ich suche nach einem Haus, das ich für eine Weile mieten kann.«
Oh. Vielleicht konnte sie ihm dabei sogar behilflich sein. »Mrs. Simpson sagt, die Sheffields wollten einen Teil von Staines vermieten.«
»Es muss ein leer stehendes Haus sein.«
»Ach so.« Wozu brauchte er ein ganzes Haus für sich allein? »Haben Sie Foxdell bei Rooks Bridge gesehen? Es steht seit Jahren leer, müsste aber renoviert werden, wenn Sie darin leben möchten, denke ich.«
»Ich hätte lieber etwas, das näher an Cheddar Gorge oder vielleicht auch Winscombe liegt.«
»Oh.« Sie wusste nichts von leer stehenden Häusern in der Nähe von Winscombe ... oder doch, denn dort lag Maitlands’ Jagdhaus. Der Gedanke entlockte ihr ein Lächeln. Warum nicht? Erich wollte es offenbar für sich. Der Gedanke, ihm einen Knüppel zwischen die Beine zu werfen, war sehr verlockend. »Hm. Einer meiner zwielichtigeren Vorfahren hat ein hübsches Jagdhäuschen etwa drei oder vier Meilen außerhalb von Winscombe erbaut. Es nennt sich ›Bucklands Lodge‹ und ist nicht mehr benutzt worden, seit mein Vater starb. Mein Cousin hat es instand gesetzt, sodass es in einigermaßen gutem Zustand sein müsste. Ich könnte mir durchaus vorstellen, es zu vermieten.«
Der Fremde neigte zustimmend den Kopf. »Sollte ich Ihren Gutsverwalter aufsuchen?«
»Ja, sprechen Sie mit Mr. Henry Brandywine. Er ist der Verwalter meines Vaters. Mr. Watkins im Hammer und Amboss kann Ihnen seine Adresse geben.«
Der gut aussehende Fremde sah sich um, als wäre noch jemand anwesend. »Ich sollte Sie heimbegleiten.«
»Ich gehe noch nicht nach Hause.«
»Halten Sie es für klug, nachts allein im Wald herumzuspazieren?«
»Oh, das tue ich oft. Ich habe einen speziellen Ort, den ich gern aufsuche«, sagte sie und rechnete mit Widerspruch.
Aber er sagte nur: »Dann will ich Sie dabei nicht stören«, und ging vorsichtig um sie herum.
Na, so was! Sie ertappte sich dabei, wie sie ihm nachsah, während der Zimtgeruch in der Luft langsam verflog.
Dann war sie es also, die Kerzen und eine Fackel in der Höhle hinterlassen hatte! Vor ein paar Stunden hatte Stephan ihren Unterschlupf gefunden. Er war nicht gut genug ausgerüstet, um der Ort zu sein, an dem Vampire sich tagsüber versteckten. Er hatte weder Spuren von Proviant noch von Schlafplätzen entdeckt, nur die Kerzen am Eingang zu einem von der Haupthöhle abgehenden Tunnel, eine Fackel in einem Wandhalter im Fels und einen ordentlichen kleinen Stapel Holz zum Anzünden eines Feuers. Und ein Buch und ein Kissen mit gehäkeltem Bezug. Das Buch war von Jane Austen. Kein Lesestoff für hartgesottene Kreaturen, die zur Erinnerung an Asharti eine Armee erschufen und das Gleichgewicht der Welt zerstören wollten.
Nein, der einzige Unterschlupf, den er in dieser Nacht gefunden hatte, war Miss van Helsings. Ein seltsames Mädchen. Kein Wunder, dass man bei ihr den Eindruck hatte, sie könne geradewegs in einen hineinsehen. Sie konnte es ja tatsächlich, wenn sie einen berührte. Für einen Mann mit Geheimnissen war das überaus gefährlich. Er musste sich von Miss van Helsing fern halten.
Und trotzdem fühlte er sich zu ihr hingezogen. Es war beinahe schon wie Zauberei.
Unsinn , sagte er sich streng. Es war so, weil sie eine Außenseiterin unter ihren eigenen Leuten war, weil sie die Geheimnisse anderer kannte und ihre eigenen hatte. Das waren Dinge, die er verstand. Er hatte sogar das Gefühl, dass eine gewisse Ähnlichkeit zwischen ihnen bestand. Das war alles. Für jemanden mit ihren übersinnlichen Fähigkeiten, an denen er nicht den kleinsten Zweifel hegte, war sie erstaunlich realistisch. Es musste viel Mut erfordern, mit ihrer Gabe zu leben, die sie ganz offenbar für einen Fluch hielt. Und sie versuchte, sie positiv zu nutzen. Er hatte ihr Mitgefühl für Jemmy Minks gesehen, obwohl sie das Schlimmste von dem Burschen wusste. War das nur
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