Blutrote Sehnsucht
sich der Feind bemächtigt hatte ... aber sie konnte auch nicht ihren Onkel im Stich lassen.
Seufzend schlug sie ihr Buch zu und erhob sich, um den Heimweg anzutreten.
Stephan taumelte aus der offenen Tür von Bucklands Lodge und rang nach Atem. Einer war entkommen. Es war der, den er im Wald überrascht hatte. Er, Stephan, hatte sie nicht alle erwischt, und das bedeutete, dass er versagt hatte.
Schwankend ging er durch den kleinen Garten. Seine Stiefel gaben ein schmatzendes Geräusch von sich; es rührte von seinem eigenen Blut her, das sich in ihnen angesammelt hatte. Der Geruch des Blutes war überall, des seinen und des ihren. Sie waren zu fünft gewesen, und er hatte es kaum mit vieren aufnehmen können. Sie hatten ihn angegriffen, bevor er darauf gefasst gewesen war, sodass er nicht die volle Leistungskraft zum Einsatz hatte bringen können, die Rubius’ Töchter ihm in Mirso antrainiert hatten. Er hatte sich wehren müssen, und das hatte ihn abgelenkt. Er hatte versagt.
Rasender Schmerz beherrschte ihn. Sicherheit, dachte er. Er musste sich in Sicherheit bringen. Sich an einen ruhigen Ort begeben, wo seine Wunden heilen konnten. Das könnte eine Weile dauern. Seine Sicht verschwamm. O Gott! Er schüttelte den Kopf. Er durfte nicht das Bewusstsein verlieren, bevor er einen sicheren Zufluchtsort gefunden hatte. Aber wo? Er konnte nicht zu dem Gasthof zurückkehren und eine Blutspur hinterlassen, zu deren Erklärung es später keine sichtbaren Wunden geben würde.
Stille und Abgeschiedenheit ... Das war es, was er brauchte.
Und plötzlich wusste er, wo er sie finden würde.
Mit letzter Kraft rief er den, der sein Blut teilte, zu Hilfe. Gefährte, dachte er, gib mir heute Nacht noch einmal deine Kraft! Ein roter Film legte sich nach und nach über die Welt. Stephan spürte, wie sich die Dunkelheit langsam um ihn zusammenzog. Gefährte!
Als ihn der aufwabernde schwarze Nebel einhüllte, wechselte seine Sicht von Rot zu Schwarz. Zu dem Schmerz seiner Verwundungen gesellte sich der exquisite Schmerz der kaum zu ertragenden, in ihm aufsteigenden Macht. Und dann merkte er gar nichts mehr.
Ann legte gerade ihren Umhang um und wollte die Kerzen ausblasen, als sie ein immer stärker werdendes Summen hinter sich vernahm. Erschrocken über das ungewöhnliche Geräusch, fuhr sie herum. Dort, am Eingang zu der Höhle, erschien eine schwarze Nebelsäule aus dem Nichts. Ann schnappte verblüfft nach Luft. Was war das?
Die Schwärze verzog sich und gab die Gestalt von Stephan Sincai frei. Ann schlug sich eine Hand vor den Mund, um einen Schrei zu unterdrücken. Sincai war blutüberströmt, sein ganzer Körper mit furchtbaren Verletzungen bedeckt. Er machte einen Schritt, dann verdrehten sich seine Augen, und die Knie gaben unter ihm nach.
Ann hörte einen leisen Laut, wie ein verängstigtes Tier ihn von sich geben würde, und merkte dann, dass er aus ihrer eigenen Kehle gekommen war. Großer Gott! Was war dieser schwarze Nebel? Und wie war Stephan so plötzlich hier erschienen? Ihr Kopf bestürmte sie mit Fragen, auf die sie keine Antwort hatte. Wie versteinert stand sie da und starrte Sincai an.
Der Sand unter seinem Körper verdunkelte sich mehr und mehr. Blut . Gott im Himmel, er verblutete! Vielleicht war er sogar schon tot. Der Gedanke genügte, um sie in Bewegung zu setzen. Sie lief zu Sincai hinüber und blieb vor ihm stehen.
Aus der Nähe waren die Wunden noch schrecklicher. Anns Blick glitt über seinen Körper. Sein Hemd und seine Hose waren zerfetzt. Er trug keinen Schal unter dem Hemd, und was davon noch übrig war, stand offen. An seiner Kehle war ein so tiefer Schnitt, dass Ann das Weiß von Knochen sehen konnte. Aber sein Hals war nicht die einzige Stelle, an der Knochen zu sehen waren, an seinem Bauch war es sogar noch schlimmer. Wieder presste sie eine Hand an ihren Mund, um einen Schrei zu unterdrücken. Ihr drehte sich der Magen um, und sie biss sich auf die Lippe, um sich von der Übelkeit, die in ihr aufstieg, abzulenken. Die aufwabernde Schwärze erschien ihr jetzt weniger wichtig als die Tatsache, dass sie nun schon zum zweiten Mal in dieser Woche einen Menschen sterben sehen würde.
Schaudernd stand sie da, während ein Teil von ihr ganz ruhig wurde. Sie hatte Molly nicht mehr helfen können, sie hatte ihr nur wie erstarrt beim Sterben zugesehen. Zu was für einem Menschen machte sie das? War sie überhaupt noch menschlich? Sie wollte nicht so werden: unbeteiligt und distanziert. War das
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