Blutrote Sehnsucht
erkennbar. Welche Hände hatten diese Bilder gestickt? Sie stellten stattliche Männer auf Pferden dar, für immer in einem tänzelnden Gang erstarrt und gefolgt von Rudeln geifernder Hunde, die ein Reh zerrissen, das sich hilflos unter ihren Fängen wand.
In einer Ecke des unterirdischen Raumes war die Felswand wie von Rauch geschwärzt. Der Stein sah seltsam glänzend aus. Was war dort geschehen? Neugierig geworden, stand Stephan auf und berührte die verrußte Oberfläche. Sie fühlte sich irgendwie ... fettig an. Als er den Saum des Wandbehangs darüber anhob, sah er, dass es ein ziemlich großer Fleck war. Er folgte ihm mit den Blicken und sah auch dunkle Spritzer an der Decke, die ihm in der Düsternis des Raumes bisher nicht aufgefallen waren. Auf dem Boden schien der Stein schon fast zu einer Pfütze durchscheinender Schwärze zerschmolzen zu sein. Könnte ein simples Feuer eine derartige Hitze entwickelt haben? Und warum fühlte sich der Stein so fettig an?
Stephan wandte sich dem Kamin zu. Das Feuer war schon lange erloschen. Irgendwo war noch Tageslicht, jedoch nicht hier. In seinem Gefängnis war es eisig kalt. Ein Stapel dicker Eichenscheite lag neben den Feuerböcken, sodass er ein Feuer anzünden könnte, aber das Letzte, was er wollte, war Hitze.
Schlagartig überfiel ihn die Erinnerung. Er hatte zugelassen, was letzte Nacht geschehen war. Scham erfasste ihn. War er so leicht zu verführen? Wie viele Male hatte er die Frauen befriedigt? Irgendwann hatte er den Überblick verloren. Sie hatten es immer wieder geschafft, ihn körperlich zu erregen, auch wenn er nicht jedes Mal einen Orgasmus gehabt hatte. Sie waren unersättlich. Und er? Er war demoralisiert von Verzweiflung und Schuld. Das machte es ihm leicht, bei körperlichen Freuden Vergessen zu suchen und sich zu verlieren. Er hätte mehr Rückgrat zeigen sollen.
Doch jetzt war es doch bestimmt vorbei. Die gestrige Nacht müsste das Verlangen der drei Frauen zumindest für eine gewisse Zeit gestillt haben. Sie würden ihn jetzt in Ruhe lassen. Oder nicht? Er wollte endlich seine Ausbildung beginnen. Seine wahre Ausbildung, nicht das, was gestern Nacht geschehen war. Die letzten Reste seiner Benommenheit fielen von ihm ab, und er erinnerte sich wieder an einige Worte aus der vergangenen Nacht. Gehorche. Eifrig. Starker Sexualtrieb. Kontrolle. Bestraft. Verbannt. Sexuelle Energie. Erhöht. Unterdrückung. Die Worte fügten sich zu neuen Bedeutungen zusammen.
Das war es, was Rubius gesagt hatte: »Wir alle haben diese Macht in uns. Sie muss nur an die Oberfläche gebracht werden. Wenn du diese Energie unterdrückst, erhöht sie deine Macht ... Lass dich von meinen Töchtern darin unterrichten!«
Eine furchtbare Erkenntnis kam ihm. Rubius hatte von sexueller Energie gesprochen. Die vergangene Nacht war also gar nichts Widernatürliches gewesen. Rubius’ Töchter benutzten sexuelle Energie für ihren Unterricht, erhöhten sie oder lehrten ihn, sie zu unterdrücken und sie zu benutzen, um Rubius’ Tötungsmaschine zu werden? Stephan holte keuchend Luft.
Draußen auf dem Gang hörte er Schritte. Mehrere Männer näherten sich. Sie trugen irgendetwas Schweres. Er roch Rindfleisch, angebranntes Gemüse und Bier. Der Riegel an der Tür wurde zurückgezogen. Er erschrak, als er den Mönch erkannte, der in der Tür erschien.
Bruder Flavio blickte Stephan an und deutete auf die Männer, die ihm folgten. Sie schleppten eine Wanne herein, die sie vor dem Kamin abstellten, und zündeten ein Feuer an. Weitere Mönche kamen mit Eimern heißen Wassers in jeder Hand herein. Sie schütteten es in die Wanne und wandten sich zum Gehen. Einer legte ein Handtuch auf den Wannenrand. Der letzte trug ein schwer beladenes Tablett mit Essen und einem Humpen Bier. Keiner von ihnen nahm Notiz von Stephans Nacktheit.
Bruder Flavio wich seinen Blicken aus und sagte auch nichts zu ihm. Die lange Nase und das schmale Gesicht des Mönchs, sein spröder Mund und seine freundlichen dunklen Augen waren Stephan so vertraut wie seine eigenen. Kein Wunder, denn Bruder Flavio war einst auf Mirso sein Betreuer und Lehrer gewesen und fast so etwas wie ein Vater, während Stephan so weit herangewachsen war, bis das Altern aufgehört hatte. Das war vor vielen Jahrhunderten gewesen. Die anderen Mönche verließen den Raum, aber Flavio blieb und richtete das Essen an. Gleich würde er fertig sein. Stephan konnte Flavio nicht ohne ein Zeichen des Erkennens gehen lassen.
»Erkennst du
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