Blutrote Sehnsucht
naserümpfend.
Polsham verzog grimmig das Gesicht. »Vielleicht könnten Sie ja eine ihrer Freundinnen überreden ...«
Mrs. Creevy sah ihn an, als hätte er den Verstand verloren. »In dieses Haus zu kommen?« Dann lachte sie. »Sie sind ein kleiner Scherzbold, Mr. Polsham, was?«
»Ich werde Mr. Brandywine morgen in aller Frühe herkommen lassen.« Polsham drehte sich auf dem Absatz um und zog die Tür hinter sich zu.
Im Dunkeln hinter dem Fenster runzelte Stephan nachdenklich die Stirn. Er hatte diese Frau mithilfe seiner Suggestivkraft dazu bringen wollen, nachts bei dem bewusstlosen Mädchen zu wachen. Aber würde eine geldgierige Alkoholikerin Ann van Helsing von Nutzen sein? Er mochte sich nicht mal vorstellen, dass ihre groben Hände das Mädchen auch nur ein oder zwei Mal am Tag versorgen würden! Polsham würde nichts anderes übrig bleiben, als die Köchin zu überreden, nachts bei Ann zu bleiben. Die ohnehin schon überanstrengte Mrs. Simpson würde jedoch binnen weniger Minuten eingeschlafen sein. Hatten Koma-Patienten nicht manchmal auch Probleme mit dem Atmen? Wer würde darauf achten und Miss van Helsing, falls nötig, mitten in der Nacht die Kehle reinigen?
Stephan rief die Dunkelheit herbei und versetzte sich wieder unter den Baum. Inzwischen regnete es unablässig, und der Wind trieb dichte Regenschleier über den See und über die Rasenflächen. Das schwache Licht aus dem dritten Stock schimmerte durch die vom Regen dichte Luft. Du solltest dich nicht einmischen, sagte Stephan sich. Was konnte er schon für das Mädchen tun? Was hatte er in diesem Haus zu suchen? Die Antwort war eindeutig: nichts. Ihr verderbter Cousin könnte seine Anwesenheit spüren. Das Beste wäre, zum Hammer und Amboss zurückzukehren.
Unschlüssig lief Stephan auf den Tannennadeln herum, die den Boden unter ihm bedeckten. Mit dem Cousin konnte er fertig werden, denn der hatte trotz seiner offensichtlichen Grausamkeit einen schwachen Geist ...
Ach, was dachte er sich bloß? Zum Teufel mit dem Mädchen! Warum musste sie auch in einem verdammten Koma liegen, ohne jemanden zu haben, der sie pflegte und bei ihr wachte? Stephan lehnte sich mit dem Rücken an den breiten Stamm der Tanne.
Verdammt.
Wieder rief er die Dunkelheit herbei, sah die Welt aus Regen und dem Duft von Immergrün in rotem Dunst verschwinden, wartete auf den Moment des Schmerzes ... und materialisierte sich in Anns Kinderzimmer im dritten Stock.
Er würde nur kurz nach ihr sehen, bevor er zum Gasthof zurückkehrte.
Es war düster in dem Zimmer, nur eine einzige Kerze brannte neben dem Bett. Miss van Helsing sah aus wie eine dieser Marmorfiguren auf Sarkophagen, klein wie die Menschen vergangener Jahrhunderte, und auch ihre Haut war glatt und weiß wie Marmor. Ihre blonden Wimpern, nur ein paar Töne dunkler als ihr Haar, streiften ihre geradezu unglaublich blassen Wangen. Ihre einst so hübschen rosaroten Lippen waren jetzt fast völlig farblos.
Und all das war seine Schuld! Es würde Stunden dauern, bis Mrs. Simpson nach der Zubereitung und dem Servieren des Abendessens heraufkommen konnte. Vielleicht könnte er eine Weile bei dem Mädchen sitzen. Er würde Mrs. Simpson auf der Treppe hören und sich verstecken können ... aber wo? Stephan blickte sich im Zimmer um. Eine Tür führte in ein Ankleidezimmer nebenan. Warum hatte das Mädchen nicht einmal eine Zofe oder ein Dienstmädchen?
Van Helsing war ein weiteres Problem. Dieser dreiste Cousin könnte jeden Moment hereinstürmen, falls er Stephans Anwesenheit spürte. Für einen Augenblick verhielt er sich deshalb ganz still und konzentrierte sich auf sämtliche Geräusche im Haus. Polsham und Mrs. Simpson in dem entfernten Küchenflügel stritten sich darüber, was zu unternehmen war. Mrs. Creevy schnarchte. Aus der Richtung, in der die Bibliothek lag, hörte Stephan das Klirren eines Glases und Schritte auf einem Teppich. Van Helsings Sensibilität hatte anscheinend ihre Grenzen. Stephan nahm sich vor, auch weiterhin mit einem Ohr auf die Vorgänge in der Bibliothek zu lauschen.
Er setzte sich auf das Bett und rechnete schon fast damit, dass Ann erwachen würde. Aber sie tat es nicht, und das war seine Schuld. Am liebsten hätte er ihre Hand genommen und sie zwischen seinen gerieben, um das Koma zu durchdringen. Aber es war sehr gut möglich, dass ihn zu berühren sie überhaupt erst in diese Situation gebracht hatte.
Und so blieb er nur still sitzen, versuchte, sie mit purer Willenskraft zu
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