Blutrote Sehnsucht
hatte die Liebe in all ihren Spielarten erfahren. Er war ein aufregender Mann. Seine bloße Anwesenheit erfüllte die Luft mit gespannter Erwartung, während sie, Ann van Helsing, ein Mädchen vom Lande war, das mit fünfundzwanzig Jahren noch immer Jungfrau war und nie einen Mann würde berühren können. Die Kluft zwischen ihnen schien so breit zu sein wie der River Axe, wo er die Ebenen unterhalb des Felsmassivs in Wedmore überflutete. In gewisser Weise wünschte sie, sie wüsste gar nichts über Stephan Sincai.
Als sie die Augen wieder von ihm abwandte, glaubte sie, ihn sich räuspern zu hören, aber er sagte nichts. Nach einer Weile hielt sie das Schweigen nicht mehr aus und bat: »Könnten Sie sich nicht wenigstens einen Moment lang setzen?« Selbst in ihren eigenen Ohren klang ihre Stimme unsicher.
Sincai räusperte sich wieder, diesmal lauter als vorher, und ließ sich auf dem Rand des Sessels nieder. Dann nahm er die Hände von den Knien und faltete sie auf dem Schoß, nur um sie gleich darauf wieder auf die Knie zu legen. »Sie wundern sich vielleicht, dass ich nicht um Erlaubnis bat, Sie besuchen zu dürfen. Es ist schon spät am Abend, und Sie sind krank. Aber ich ...« Er beendete den Satz nicht. Offenbar wollte er sie etwas fragen und konnte sich nur nicht dazu überwinden. Sichtlich unruhig stand er auf und begann, in dem dämmrigen Zimmer umherzugehen, in dem die Luft buchstäblich knisterte von seiner inneren Erregung.
Ann wollte nicht, dass er ging, das wurde ihr ganz plötzlich klar. Die Kluft zwischen ihnen war sehr real, aber hatte nicht jeder von ihnen auch in die Seele des anderen geblickt? Sie in die seine auf jeden Fall. Es ihm zu erzählen, könnte ihn jedoch vertreiben. Er war kein Mann, der seine Geheimnisse gern teilte. Und wenn er ihre Freundschaft akzeptierte und dann herausfand, dass sie von Anfang an alles über ihn gewusst hatte, würde er sie dann nicht hassen, weil sie es ihm verheimlicht und ihn damit im Grunde zu der gleichen Heuchelei gezwungen hatte? Ann atmete tief ein, weil sie für das, was sie jetzt vorhatte, ihren ganzen Mut zusammennehmen musste. »Ich weiß, warum Sie nachts hierherkommen, ohne meine Erlaubnis zu erbitten.«
»Tatsächlich?« Selbst im schwachen Licht war seine bestürzte Miene nicht zu übersehen.
Ann nickte ernst. Am liebsten hätte sie ihm über die Stirn gestrichen, um die steile Falte dort zu glätten. Machte er sich nur Sorgen, sie könnte herausgefunden haben, wer er war? Vielleicht befürchtete er ja, dass sie ihn verachten würde, wenn sie wusste, was er war. Aber so war es natürlich nicht. Wie auch? Gerade sie hatte kein Recht, jemanden wie ihn zu verurteilen. Das musste ihm doch klar sein.
Doch wie sollte sie ihm erklären, dass sie alles über ihn wusste, ohne ihn abzuschrecken? Die Erklärung würde schließlich auch ihre eigenen Geheimnisse zutage bringen. Aber vielleicht waren gerade diese Geheimnisse ein Punkt zu ihren Gunsten? »Ich muss Ihnen das mit dem Anfassen erklären.« Plötzlich schien sich ihr die Kehle zuzuschnüren. Konnte sie es ihm wirklich sagen? Es gab nur zwei Menschen auf der Welt, die die ganze Geschichte kannten. Der eine war tot und der andere, Gott helfe ihm, würde es bald sein.
Sie senkte den Blick auf ihre Hände, die sich irgendwie in die Decken verkrallt hatten. »Ich habe Ihnen schon im Wald erzählt, dass ich Dinge über Menschen erfahre, indem ich sie anfasse.« Sie blickte auf. »Und in der Höhle habe ich Sie berührt.«
»Sie haben versucht, meine Wunden zu verbinden.« Das schien ihn zu erstaunen. Konnte er nicht glauben, dass jemand versuchen würde, ihm zu helfen?
Wieder holte sie tief Luft. »Da wusste ich noch nicht, dass Ihr Gefährte sie heilen konnte.«
Stephan zuckte zusammen und blieb dann wie vom Donner gerührt vor ihr stehen. »Aber jetzt wissen Sie es.« Seine Augen versengten sie geradezu. Er sah gefährlich und zugleich bekümmert aus. Die Energie, die ihn stets umgab, wurde noch ein bisschen ausgeprägter. Vielleicht hätte sie nicht so unverblümt damit herausplatzen und sich dem Thema etwas indirekter nähern sollen?
»Tut mir leid«, murmelte sie mit einem reuevollen kleinen Lächeln. »Das ist mein Fluch. Es ist nicht nur so, dass ich einige Dinge über Menschen weiß, sondern einfach alles, Mr. Sincai.«
»Alles?«
»Nun ja, da Sie so alt sind und so viele Erfahrungen gesammelt haben, kann ich noch nicht alles ganz zusammenfügen. Da sind noch Lücken. Doch ich weiß
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