Blutrote Sehnsucht
können Sie sich wirklich glücklich schätzen.«
»Nach einer Weile ist es überall auf der Welt das Gleiche. Die Menschen sind sich ähnlich, und man nimmt sich selbst überallhin mit.«
»Ich hätte liebend gern eine Chance, das selbst festzustellen.«
Er lächelte. Es war ein solch winziges Lächeln, dass es einem entginge, wenn man nicht genau hinsähe. »Sie haben Ihre Bücher. Sie können sie überall hinbringen.«
»Das ist nicht das Gleiche«, sagte sie, obwohl sie Erich belogen und behauptet hatte, das sei es. »Man sieht die Dinge durch die Augen des Verfassers. Alle Eindrücke sind nur geborgt. Ich kann manchmal andere Zeiten und andere Leben durch die Gegenstände spüren, die ich berühre, aber auch das ist nur eine fremde Realität. Ich will meine eigene, verstehen Sie?«
»Realität wird überbewertet.« Er kaute nachdenklich an seiner vollen Unterlippe. »Dennoch wäre es vielleicht gut für Sie, sich in London einzurichten.«
»Ich könnte meinen Onkel nicht verlassen.« Das würde möglicherweise nicht mehr lange ein Thema sein, und beide wussten das.
»Nicht sofort natürlich«, setzte er rasch hinzu. »Aber das Leben in einer weniger beschränkten Gesellschaft wäre gut für Sie. Die Leute hier sind zu provinziell, um Sie zu schätzen.«
»Sie meinen, sie wissen zu viel über mich.« Ann lachte, doch dann seufzte sie. »Reisen ... in London leben ... nein, das ist einfach unmöglich für jemanden wie mich.«
»Sie stellen eine Gesellschafterin ein und nehmen Mrs. Simpson, Polsham und Jennings mit. Ein schönes Haus in der Stadt ... eine anspruchsvolle Gesellschaft ...«
»Und wie würde ich dort Berührungen vermeiden?«, hielt sie ihm entgegen.
»Indem Sie sich als Exzentrikerin geben«, erklärte er mit dem Anflug eines Lächelns um den Mund. »Sie lassen sich nie ohne Handschuhe sehen und erklären, dass Sie es einfach zu unkultiviert finden, andere zu berühren. Damit werden Sie ganz groß in Mode kommen.«
Sie konnte gar nicht anders, als zu lachen und den Kopf zu schütteln. »Sie lassen es so einfach klingen.«
»Das ist es.«
Ann wurde ernst. »Für jemanden, der so mutig ist wie Sie vielleicht. Aber nicht für mich.« Sie blickte sich in dem nur schwach beleuchteten Zimmer um. »Ich könnte mein Kinderzimmer nicht verlassen. Hier kann ich Dinge berühren und werde nicht gleich ... überfallen von jedem, der sie irgendwann einmal angefasst hat.«
Er senkte den Kopf und blickte auf seine Hände. »Dies hier ist also ein Zufluchtsort für Sie.«
»Und Sie verstehen die Notwendigkeit für einen solchen Ort bestimmt.«
»Ja.«
Ein Hauch von Traurigkeit glomm in seinen Augen auf und verschwand wieder – nun, da sie wusste, wonach sie Ausschau halten musste, konnte sie diese winzige Äußerung von Gefühl erkennen. War das alles, was ihm geblieben war nach seinen Erfahrungen?
»Sie haben viel Leid erfahren in Ihrem Leben«, flüsterte sie. »Sie verdienen Frieden.«
»Nein, ich verdiene ihn nicht. Noch nicht.« Die Härte war wieder da in seiner Stimme. Seine Augen sahen aus, als wäre er weit entfernt. Sincai glaubte wirklich, keinen Frieden zu verdienen. Und er war auch nicht der Meinung, dass ihm Freundlichkeit von einem anderen zustand. Deshalb konnte er nicht glauben, dass sie versucht hatte, ihn zu verbinden, als sie seine Verletzungen gesehen hatte. Wie musste es sein, sich selbst dermaßen zu verachten? Er fing sich plötzlich wieder und sah sie prüfend an. »Sie sind müde, Miss van Helsing.«
Das stimmte. Sie war hundemüde, aber sie wollte nicht, dass er ging. »Nicht wirklich.«
Er zog die Brauen hoch. »Ich werde in diesem bequemen Sessel hier eins Ihrer Bücher lesen. Und Sie werden schlafen«, erklärte er.
Ihre Lider waren schwer. Sie konnte kaum noch die Augen aufhalten. »Sie werden doch nicht gehen, oder?«
»Erst bei Tagesanbruch. Falls Sie heute Nacht erwachen, bin ich hier.«
»Und Sie werden wiederkommen?«
»Wenn ich kann.«
»Na gut, dann schlafe ich ein Stündchen.« Sie lächelte, als sie sich in ihrem Bett ausstreckte und die Decke hochzog. »Ich habe mehrere Sprachbücher. Sie könnten Italienisch lernen.«
»Sie lassen nach. Ich kann schon Italienisch.«
»Oh ja ...« Ihre Lider waren so schwer. »Das hatte ich vergessen ...«
12. Kapitel
S tephan sah, wie ihr die Augen zufielen. Sie würde die Nacht durchschlafen. Und das war gut. Nach ihren Erlebnissen brauchte sie Schlaf. Und ihr Cousin konnte nicht unbemerkt in der Nacht die
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