Blutrote Sehnsucht
noch eine Verpflichtung.
Oder vielleicht sollte er nur sichergehen, dass sie ihr Wissen über ihn nicht zurückgewann. In den nächsten Tagen hatte er ohnehin nichts anderes vor.
In seinem Zimmer im ersten Stock konnte Stephan hören, dass unten ein neuer Gast eintraf. Vermutlich war es der Bow Street Runner. Stephan hatte erwartet, dass der Ermittler ein rauer Bursche sein würde, der selbst nur einen Schritt vom Verbrechertum entfernt war, doch die Stimme des Mannes, der sich dem Gastwirt vorstellte, klang sehr höflich. Der Bow Street Runner schien ein gebildeter Mensch zu sein.
»Ich würde gern ein Zimmer mieten, guter Mann.«
»Alle unsere Zimmer sind entweder schon belegt oder reserviert, Sir«, antwortete Mr. Watkins schroff.
»Mr. van Helsing sagte, ich könnte hier Unterkunft bekommen.«
»Oh. Oh, natürlich! Sie sind ... Sie kommen nicht zufällig von der Bow Street, Sir?«
»So ist es. Mein Name ist Steadly. Ernest Steadly.«
»Nun, Mr. Steadly, dann heiße ich Sie herzlich willkommen in Cheddar Gorge! Gebt dem Herrn das reservierte Zimmer, Jemmy, Peg!« Der Wirt senkte verschwörerisch die Stimme. »Ich habe Ihnen nämlich ein Zimmer gleich neben einem der Hauptverdächtigen gegeben! Boy! Komm her, mein Junge, und begleite Mr. Steadly zu Nummer fünf hinauf.«
Schlurfende Schritte. »Jawohl, Chef!«, sagte eine dünne Stimme, wahrscheinlich die des Hausdieners. »Furchtbare Tat«, murmelte er, als er die Treppe hinaufging. Stephan hörte seine näher kommenden Schritte und das Klirren eines Schlüsselbundes. Dann ertönten die Schritte eines zweiten Mannes. »Sie werden sicher Sincai festnehmen und dann die Hexe da oben auf Maitlands holen«, fuhr der Junge fort. »Und aus beiden Geständnisse herausholen, denke ich mal. Wahrscheinlich stecken sie unter einer Decke.«
Genau das, was Stephan schon befürchtet hatte. Er würde sich zu helfen wissen, aber Miss van Helsing nicht.
»Werden Sie noch mehr Zimmer für Ihre Partner brauchen?«, erkundigte sich der Junge.
»Nein.«
»Nun, wir sind so ziemlich das einzige Haus im Dorf, das Gäste aufnimmt, bis auf Mrs. O’Reilly, und sie nimmt nicht mehr als zwei. Ich bin sicher, dass Mr. Watkins Ihre Partner noch hier unterbringen könnte.«
»Ich bin allein gekommen, Junge. Ich habe keine Partner mitgebracht.«
Die Schritte hielten inne. »Allein? Wie wollen Sie denn dann Mörder fassen, die so was Schreckliches verbrochen haben wie das, was die Leute in Bucklands Lodge gesehen haben?«
»Ich habe meine Mittel und Wege, Junge.« Die Stimme war ruhig und selbstsicher.
»Das Dorf könnte eine Bürgerwehr für Sie zusammenstellen.« Die Schritte gingen weiter. Dann senkte der Junge die Stimme zu einem Flüstern. »Wollen Sie, dass Mr. Watkins die Jungs jetzt gleich zusammenruft?«
»Nein«, beschied ihn Steadly ruhig. »Ich werde mit Mr. Sincai sprechen und mir dann das Jagdhaus ansehen, wenn man mir einen Führer zur Verfügung stellen kann.«
»Einen Führer! Na ja, wahrscheinlich könnte Jemmy Sie dort hinbegleiten.«
»Das würde ich sehr begrüßen.« Stephan hörte, wie der Hausdiener die Tür aufschloss und Steadly in das Zimmer führte. »Vielleicht könntest du Mr. Sincai fragen, ob er Zeit hat, mich unten im Speisesaal zu treffen?«, bat Steadly den Jungen.
Stephan öffnete seine Zimmertür und trat auf den Gang hinaus. »Ich begleite Sie gern jetzt gleich hinunter, Mr. Steadly.« Der Hausdiener huschte an ihm vorbei und drückte sich an die gegenüberliegende Wand. Er machte ein Gesicht, als wäre er drauf und dran, sich zu bekreuzigen.
Steadly nickte, höflich, aber wachsam, und bedeutete Stephan voranzugehen. Er war ein hochgewachsener, kräftiger Mann mittleren Alters mit leicht angegrauten Schläfen, der einen gut geschnittenen, wenn auch nicht gerade eleganten Anzug und eine schlicht gefaltete, jedoch perfekt gestärkte Schalkrawatte trug. Er hatte scharfe graue Augen, von denen Stephan unter den gegebenen Umständen nicht behaupten konnte, dass sie ihm gefielen.
Unten setzte Stephan sich auf einen Stuhl, streckte eines seiner langen Beine aus und versuchte, sich ganz ungezwungen und entspannt zu geben. Steadly dagegen wirkte ziemlich steif und verzichtete sogar darauf, Platz zu nehmen.
»Was kann ich für Sie tun, Mr. Steadly?«
»Sie werden es vielleicht nicht glauben, aber ich bin von ...«
»Der Bow Street«, unterbrach ihn Stephan. »Sie sind sicher wegen dieser grauenhaften Morde hier. Ich bin schon fast versucht,
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