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Blutrotes Wasser

Blutrotes Wasser

Titel: Blutrotes Wasser Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jonas Torsten Krueger
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meinem Vater hier.«
    Seine Miene schien abzukühlen, als hätte man ihn mit Schnee eingeseift.
    Verunsichert machte sie weiter: »Wir erforschen das Höhlensystem unter dem Burgberg.«
    Lázlo nickte. »Die Molnár János. Du bist ein Taucher?«
    »Wow – so ein modernes Wort kennst du?«
    Er lächelte wieder. Endlich. »Schiller«, sagte Lázlo und zitierte in ihr fragendes Gesicht:
    »Wer wagt es, Rittersmann oder Knapp,
    Zu tauchen in diesen Schlund?
    Einen goldnen Becher werf ich hinab,
    Verschlungen schon hat ihn der schwarze Mund.
«
    Lázlo musterte sie, ohne Lächeln, nur neugierig, was sie sagen würde. Als sie schwieg, meinte er: »Diese letzte Zeile empfand ich stets als etwas, nun, holprig. Dieses:
Verschlungen schon hat ihn der schwarze Mund
. Was meinst du?«
    »Wow. Ich meine … keine Ahnung.«
    »Wer ist denn dein liebster …?«
    »Bitte?«
    »… Schriftsteller?«
    »Hm, ich weiß nicht. Stephen King?«
    Diesmal lächelte er nicht nur, er lachte. Ein leises, tiefes Glucksen. Ihr gefiel dieses Lachen. Aber leider hielt es nicht lange an. Er fummelte sein Handy aus der Jeans, schaute nach der Uhrzeit und steckte es zurück. »Es war eine Ehre, dich kennengelernt zu haben, Lena«, sagte er. Vielleicht war er sogar noch höflicher als der alte Geiger vorhin. Budapest fing langsam doch an, ihr zu gefallen.
    »Aber … sehen wir uns noch mal?«, fragte sie.
    Lázlo stand zögernd auf. »Wenn du es wünschst …«
    14.33 Uhr, Szent-Kodály-Krankenhaus
    Doktor Paul Anday ließ die Akten auf seinem Schreibtisch kreisen: Er spielte Patienten versenken. Seine Arbeitszeit war leider begrenzt und seine Energiereserven waren nicht unendlich. Als einer von zwei hauptamtlichen Psychologen im Szent-Kodály-Krankenhaus konnte er nicht mehr tun. Leider. Obwohl ihm jeder Patient an die Nieren ging, obwohl jeder ein Mensch mit verletzter Seele war, konnte er sich verdammt noch mal nicht um alle kümmern. Deshalb verteilte Doktor Anday am Anfang jedes Monats die Patientenordner auf der Tischplatte, die mittlerweile den Stempel »Erledigt« trugen – und drehte sie. Mit immer mehr Schwung, bis schließlich die eine oder andere Akte über die Tischkante rutschte. Patient versenkt.
    Um die vier Stück, die am Ende übrig blieben, würde er sich noch einmal kümmern. Kontakt aufnehmen und Hilfe anbieten. Nicht dass er damit viel Erfolg hatte. Doch er fühlte sich … verpflichtet.
    Anday gab den Akten noch einen letzten Schubs, ließ sie herumwirbeln und über die Tischplatte tanzen. Nach und nach schlidderten die Patienten in den Hades. Die übrig gebliebenen Fälle legte er in den Eingangskorb – er würde sich morgen um sie kümmern. Anday blickte auf die Wanduhr: Schon nach halb drei. Gleich musste er zu den nächsten Gesprächen, dann war seine Schicht endlich um. Gähnend erhob sich der Arzt und sammelte die versenkten Patienten ein, sortierte die Protokolle alphabetisch in den Aktenschrank ein und freute sich auf ein Dreher-Bier in der nächsten Eckkneipe. Ein DIN-A4-Blatt wollte ihn aufhalten und rutschte aus dem Hefter. Anday bückte sich und warf einen Blick darauf. Ach ja, dieser Junge. Lázlo. Der Psychiater las, was er abschließend geschrieben hatte: »Der Patient ist weiterhin hochgradig suizidgefährdet. Eine Therapie wird dringend empfohlen.«
    Kurz und knapp. Zwei Sätze, ein Urteil. Anday erinnerte sich gut an diesen ebenso hochintelligenten wie verzweifelten jungen Mann. Sehnsüchtig warf der Arzt einen zweiten Blick auf die Uhr und gab sich einen Ruck. »Weinend belustigt sich der Ungar«, murmelte Paul Anday und suchte die Telefonnummer auf Lázlos Akte, tippte die Ziffern ein und lauschte dem Tuten. Wie jedes Mal dachte er dabei an den Erfinder Tivadar Puskás. Kaum ein Deutscher oder Engländer wusste, dass der Ursprung ihres »Hallo?« oder »Hello?« in Ungarn lag. Puskás, ein Mitarbeiter Thomas Edisons, hatte 1878 die erste Telefonleitzentrale der Welt eingerichtet. Und das Erste, was er am Sprechapparat gesagt hatte, war »hallom« gewesen, das ungarische Wort für »Ich höre«.
    Aber diesmal wartete der Arzt umsonst auf ein Hallom – niemand hob ab. Anday steckte das Telefon zurück, zögerte noch einmal und legte dann Lázlos Akte in den Eingangskorb. Zu den vier anderen Überlebenden von »Patienten versenken«.
    15.09 Uhr, Stadtteil Óbuda, Wohnsiedlung Faluház
    »Gut gemacht, Soldat!« Janosch grinste sein ewiges Grinsen.
    Halbherzig lächelte Lázlo zurück. Er war immer noch müde.

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