Blutrotes Wasser
Luft der Sommernacht ein. Wieder dachte sie ans Tauchen, an diesen einen Augenblick, als sie zu ersticken glaubte, als plötzlich einfach nichts mehr da war zum Atmen und Blitze hinter ihren Augen explodierten.
Ein leises sirrendes Geräusch. Es kam Lena bekannt vor: Sie hatte zu Hause schon oft einen Schwan über die Donau fliegen sehen – genauso klang dieses Flirren. Automatisch schaute sie nach oben und tatsächlich: Ein Vogel kreiste weit oben, aber direkt über dem Innenhof der Pension Liszt. Sich die Augen reibend beugte sie sich ein Stück weiter aus dem Fenster. Das Vieh musste riesig sein. Mindestens so groß wie ein Höckerschwan. Einen Geier hatte Lena noch nie gesehen, außer im Zoo, aber da hockten die nur traurig-träge auf ihren Plastikbäumen. Trotzdem sah dieser Vogel geiermäßig aus: fett, aufgeplustert und mit einem langen, schlangenförmigen Hals. Ein Geier in Budapest? Unwahrscheinlich. Was zum Teufel war das dort oben? Der Vogel kreiste über ihr, schien kaum mit den Flügeln zu schlagen. In einer Spirale sank er tiefer zu ihr herab, das Sirren wurde lauter. Jetzt meinte sie schon den spitzen Hakenschnabel erkennen zu können, die gekrümmten Klauen, die brennend rot leuchtenden Augen. Der mächtige Vogel schwebte noch näher und Lena machte einen taumelnden Schritt zurück. Prompt stolperte sie über ihren geklauten und wiedereroberten Rucksack und fiel aufs Bett. Als sie wieder am Fenster stand, war der Himmel leer. Kein Riesengeier. Kein Ufo. Nur die liegende Mondsichel, wie ein Smiley ohne Augen. Nur das Grinsen.
Von irgendwoher schlugen Kirchenglocken. Lena zählte bis zwölf. Geisterstunde.
9
Sonntag, 7. August
01.20 Uhr, Pariser Hof, Ferenciek tere
»Dafür braucht ihr mich unbedingt?« Lázlo flüsterte, aber er flüsterte wütend.
»Fick dich, Mann.« André blickte zu ihm hinüber und fletschte die Zähne. In der Dunkelheit der Nacht leuchteten sie weiß. »Mach einfach weiter.«
Auch Frosch raunte nur: »Bist dir wohl zu schade für das hier?«
»Ich …«, Lázlo zögerte. »Nein.«
»Dann beweg dich«, zischte Frosch und deutete auf die rechte Seite des Toreingangs. Er selbst stellte sich an der linken auf, während André die Brechstange zückte, sich kurz umschaute und das Schloss traktierte. Ein hässliches Geräusch, zerbrechendes Metall, dann flüsterte André: »Offen«.
Das Trio huschte in die Passage hinein. Der Pariser Hof war eine alte Einkaufspassage in der Nähe der Váci út, über 100 Jahre alt und eine Symphonie in Glas und Holz. Das kuppelförmige Dach erinnerte eher an eine Kirche als an eine Ladengalerie, der Boden leuchtete im Licht ihrer Taschenlampen glitzernd auf: Mosaik und Marmor, märchenhaft und mit einem arabischen Touch. Seit Jahren ging es mit diesem Jugendstil-Juwel bergab, ein Geschäft nach dem anderen musste schließen. Jetzt sollte der Pariser Hof verkauft werden, natürlich an finanzkräftige Investoren aus dem Ausland.
»Los, los«, zischte André.
Ihre Taschenlampen warfen gespenstische Schatten in die Passage hinein, die Stille wurde nur von ihren quietschenden Schuhen auf dem blank polierten Steinboden unterbrochen. Sie blickten sich ein letztes Mal um, holten die Farbdosen heraus und schüttelten sie. Klacker-klacker-klacker. Drei Spraydosen, drei Farben: Rot, Weiß und Grün – die Flagge Ungarns. Wortlos machten sie sich an die Arbeit und sprühten ihre Parolen: »Weg mit dem Judendreck.« – »Auf, auf, Ungarn!« – »Tourist, wir töten dich!« Zisch, zisch, klacker-klacker.
»Frosch, was soll das?« André packte ihn fluchend am Arm.
»Was ist denn?«
»Du fickender Sohn einer Hurenmutter. Das da!« André beleuchtete mit seiner Taschenlampe Froschs in Ausführung begriffenes Kunstwerk. In fast metergroßen Buchstaben hatte er gesprüht: »Die FEKETE SEREG wird uns …«
»Was, verdammt?« Frosch riss sich los.
»Holló will nicht, dass unser Name bekannt wird, Idiot.«
»Aber bald ist doch …«
»Halts Maul!« André packte den Jüngeren und schlug zu. Frosch taumelte. »Entschuldige«, wimmerte er.
»Die Schwarze Armee bleibt so lange ein Schatten, bis Holló es sagt. Kapiert, Arschloch?«
Frosch nickte.
»Und jetzt mach das weg.« Andrés Taschenlampe huschte abermals über den Schriftzug.
Frosch nickte. »Wie soll ich denn …«, begann er, wurde aber von hallenden Schritten und einer wütenden Stimme unterbrochen.
»Wer ist da?«
»Licht aus!«, zischte André. »Verteilen!«
Ein Nachtwächter kam
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