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Blutrotes Wasser

Blutrotes Wasser

Titel: Blutrotes Wasser Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jonas Torsten Krueger
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stürzte man leicht, und wenn man beim Aussteigen nicht aufpasste, stolperte man. Jedes Mal, wenn Éva eine Rolltreppe hinabfuhr, hatte sie das deutliche Gefühl, dass dieses Ding ihr zum Schluss einen Schubs gab, ein lautloses »Und weg mit dir!«
    Es war kein guter Tag gewesen. Nur eine Handvoll Blumen hatte sie verkaufen können, die restlichen welkten in dem grünen Plastikeimer traurig vor sich hin. Trotzdem wollte Éva sie nicht wegschmeißen. Verkaufen konnte sie diese Sonnenblumen zwar nicht mehr, aber wer sagte denn, dass welke Blumen nicht auch schön waren? Im Fernsehen hatte sie mal von einem verrückten holländischen Maler gehört, der sich sein Ohr abgeschnitten, aber auch welke Sonnenblumen gemalt hatte.
    »Ph!«, machte Éva, konzentrierte sich und wartete auf den Schubs der Rolltreppe. Sie hatte wirklich Angst davor, zu stürzen – in ihrem Alter heilten die Knochen nur noch langsam. So. Geschafft.
    Erleichtert zupfte sie an ihrem blauen, natürlich mit Blumenmustern verzierten Kopftuch herum, trippelte ein paar Schritte Richtung Gleis, um auf die nächste Metro zu warten. Morgens stand sie zwei Stunden hier und verkaufte manchmal alle ihre Blumen auf einmal. An guten Tagen. Éva mochte die Metro. Schon allein, weil sie älter war als Éva – schon 1896 fuhr hier ein erster unterirdischer Zug. Sie kicherte und strich sich den schwarzen Rock glatt, warf dann erneut einen Blick auf ihre traurigen Sonnenblumen. Vincent van Gogh. So hieß der Maler mit dem Ohr. Éva trug ihre 82 Jahre zwar in einem immer klappriger werdenden Körper herum, aber ihr Kopf war noch ziemlich klar und schnell. Wenn ein Polizist sie zum Beispiel heute nach dem kleinen Dieb gefragt hätte, der dem Mädchen auf der Váci utca ihren Rucksack klauen wollte, sie hätte ihn genau beschreiben können. Ihr Phantombild dieses Bürschchens wäre detailgetreuer ausgefallen als jedes Foto.
    »Ph«, machte sie noch einmal und schaute zärtlich über die Metrostation: weiß glasierte Ziegel an den Wänden, verzierte braun angemalte Stahlpfeiler und ein alter Ticketschalter aus Holz. Schön. Sie mochte das. Auch den warmen Wind, der plötzlich durch den Tunnel brandete und den einfahrenden Zug ankündigte. Schwüle, trockene, stickige Luft, aber Éva gefiel’s. Du bist nicht ganz dicht, hatte ihr Paul Iván immer gesagt. Das letzte Mal vor 15 Jahren. Dann war er gestorben. Der Zug rauschte heran und hielt quietschend, die Feierabend-Meute quetschte sich hinein und heraus. Éva taumelte, als sie mitgeschoben wurde, auch hier musste sie wieder aufpassen. Der Waggon platzte aus seinen metallenen Nähten, aber das war einer der Vorteile, wenn man so alt war wie sie: Stehen musste Éva so gut wie nie. Auch jetzt blickte ein ganz junger Bursche auf, bemerkte Éva und wollte aufstehen.
    »Nem, Frosch. Bleib sitzen.«
    »Aber André«, entgegnete der Kleine. »Wieso soll ich …«
    »Weil diese Alte da einer der Gründe dafür ist, warum Ungarn immer noch schläft.«
    »Ach«, fragte Éva ihn, »und woher willst du das wissen, Dummkopf?«
    »Der Rabe weiß es. Was hast du denn getan, Alte, um uns in die Freiheit zu führen? Hast dich knechten lassen dein Leben lang.« Er spuckte aus. Traf mit seinem Speichel in den grünen Plastikeimer mit welken Sonnenblumen.
    Éva spürte die Traurigkeit in sich aufbrechen und schluckte. Dann holte sie tief Atem und sagte: »Lieber Gott, schieb deinen herrlichen Hintern aus den Wolken und scheiß auf dieses dumme Arschloch * !«
    23.55 Uhr, Pension Liszt
    Lena schreckte auf. Ihr Blick irrte durch das halbdunkle Zimmer und hielt sich an dem Fernseher in der Ecke fest, der leise schnarrend explodierende Autos und herumballernde Bösewichte zeigte. Wann war sie eingeschlafen? Gähnend und streckend rappelte sie sich vom Bett auf, fand die Fernbedienung und tippte auf den roten Knopf. Der Fernseher schwieg, die Wände der alten Pension knackten und knarrten leise. Irgendwo im Zimmer sirrte nervtötend eine Stechmücke, durch das geöffnete Fenster dudelte, wie fast in jeder Nacht, leise Musik aus einem Radio. Lena ging hin und schaute hinaus. Mit Hinterhöfen hatten sie’s hier in Budapest, verwinkelt, malerisch und, na ja, altmodisch. Ein sichelförmiger Mond schaukelte am Himmel und warf sein schwaches graues Licht auf das Hinterhof-Viereck hin­unter. Ein Baum, ein paar Fahrräder, Mülltonnen und irgendwelches Gerümpel. Was halt auf einem Hof so landete. Sie gähnte noch einmal, sog dann gierig die schwüle

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