Blutrotes Wasser
auf sie zugeeilt, fing Frosch mit seiner Stablampe ein. »Was zum dickschwänzigen Teufel …«
Weiter kam er nicht. André stürmte auf ihn zu und schmetterte die Brechstange in seinen Bauch. Mister Sicherheitsdienst ging stöhnend zu Boden. André trat zu. »Los, helft mir!«
Frosch ließ sich kein zweites Mal bitten und trampelte wütend auf der liegenden, schmerzverkrümmten Gestalt herum.
Lázlo zögerte.
»Du auch!«, herrschte André ihn an.
»Aber …«
»Nichts ›aber‹!« André zerrte ihn zu dem Opfer. »Schau ihn dir an. Sicherheitsdienst. Bestimmt ein Ex-Bulle, der einmal zu oft die Hand aufgehalten hat. Vielleicht einer von denen, die auf deinen Vater eingeprügelt haben.«
Lázlo starrte hinab auf den Menschen, der sich unter Froschs Tritten krümmte, die Arme zum Schutz vor seinem Gesicht, die Knie angezogen. Hatte André recht?
»Und selbst wenn er’s nicht war«, zischte dieser jetzt, »dann war es eben ein anderer von denen. Er verdient es.«
Lázlo presste die Augen zusammen. Nichts sehen, nichts hören. Aber dafür war es zu spät, endgültig. Etwas Besseres als den Tod? Ja, verdammt.
»Du bist jetzt Soldat«, raunte André weiter. »Tu, was getan werden muss.«
Lázlo streckte sein rechtes Bein nach hinten, so als wollte er einen Fußball ins Tor dreschen. Er trat zu. Fest. Der Wachmann wimmerte und versuchte zur Seite zu kriechen.
»Gut so!«, feuerte André ihn an.
Lázlo sah seinen Vater sterben, sah Irina und ihre sauberen Freunde, wie sie über ihn lachten. Er sah sich selbst in der Badewanne liegen, die Rasierklinge über seine Unterarme führen.
Er trat zu. Ja. Noch einmal. Und noch mal. Er spürte das kalte Lächeln nicht, das sich auf seinem Gesicht ausbreitete, aber er hörte plötzlich Janoschs Stimme in seinem Kopf: »Nicht dir musst du wehtun, Lázlo, sondern den anderen.« War es wirklich so einfach? Ja. Ja, verdammt. Lázlo trat zu. Adrenalin brauste durch ihn hindurch, ein Tornado aus Wut pochte in seinen Schläfen. JA! Er würde es ihnen zeigen. Allen.
»Das ist genug.« André zerrte ihn weg. »Hauen wir ab.«
Lázlo keuchte. Frosch deutete mit dem grellen Finger der Taschenlampe auf Blut, Erbrochenes und den zuckenden Körper.
»Los, Abgang!«, kommandierte André.
Das Trio suchte Lampen, Sprühdosen und Brecheisen zusammen und verschwand. Der Pariser Hof, 1911 als großartige Jugendstil-Architektur erbaut, blieb in Dunkelheit und Stille zurück. Aus einer Ecke – ein Schatten, versteckt in den Schatten – löste sich eine kleine, schmale Gestalt. Sie lächelte. Die tiefen Falten um die Lippen waren unsichtbar in der Dunkelheit. Gut, dachte Janosch. Dieser Lázlo war wirklich schon mehr als bereit. Holló, der Rabe, würde zufrieden sein.
8.15 Uhr, Váci utca
Éva lächelte mit zusammengekniffenen Lippen. Sie hatte nicht mehr so viele Zähne im Mund und neue waren zu teuer. Deshalb lächelte sie eben mit geschlossenem Mund. Ging genauso gut. Heute hatte sie Rosen in ihrem kleinen Garten geschnitten, rote und gelbe und ein paar letzte Tulpen. In der Metrostation hatte sie schon ein bisschen Umsatz gemacht, jetzt schlurfte sie die Váci utca entlang. Obwohl es noch früh war, brannte die Sonne. Wann hatte es das letzte Mal geregnet? Im Juni? Oder im Mai? Éva sehnte sich nach Regen, wie sie sich manchmal nach Ruhe sehnte. Dieser allerletzten Ruhe, wenn sie ihre Blumen nur noch aus einer Richtung sehen würde: von unten, aus ihrem Grab heraus. Aber noch war es nicht so weit. An jeder zweiten Ecke blieb sie stehen, wartete eine halbe Stunde, hielt den Kopf gesenkt, ihren Blick nach innen gerichtet. Scheinbar. Denn in Wirklichkeit entging ihr kaum etwas, was um sie herum passierte. Éva liebte es, in den Gesichtern der Menschen nach ihren Geschichten zu forschen, sich ihr Leben auszumalen und in ihre Gedanken zu schlüpfen. Nur so vergingen die endlosen Stunden eines Tages schnell genug. Éva suchte ein paar Blumen aus ihrem Eimer, arrangierte ein kleines Sträußchen, hielt es sich vor die Brust und wartete. Den Blick nach unten gerichtet, aber ihre Augen überall – so stand sie wartend in der Millionenstadt. Bis ihr ein junger Kerl auffiel, den sie sofort wiedererkannte: Der Rucksackdieb von gestern. Er schlenderte betont langsam die Fußgängerzone entlang und war bestimmt auf der Suche nach einem neuen Opfer. Éva blickte sich um, aber wie immer war kein Polizist in der Nähe, wenn man ihn brauchte. Andererseits wurden Blumenfrauen in der Innenstadt
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