Blutrotes Wasser
die Hoffnungslosigkeit. Ich sah, wie Politiker großgemacht wurden und wieder klein. Ich sah die Lügen. Und wusste keinen Weg. Dann, ganz langsam, als man trotz allem überleben konnte in Ungarn, reifte mein Plan. Ich entdeckte Janosch und das Potenzial der Kinder. Schenke ihnen ein Glas Wasser, und sie schenken dir ihr Herz. Sie sind formbar und loyal. Die Wut ist leichter zu entfachen in ihnen, weil ihre Kruste aus Resignation und Dummheit noch nicht so dick ist. Ich fand zu ihnen. Sie fanden zu mir.
Ungarn. Ich weinte blutige Tränen um dieses Land, das Jahrhunderte ohne Ich lebte, ohne Identität, ohne Wahrheit. Zusammengestückeltes Wissen von überall her, zusammengefügte Ideen aus allen Teilen der Welt. Ob in Architektur oder Kunst, ob im Alltag oder in der Philosophie – die Magyaren schluckten den bitteren Brei, den die Herrscher ihnen einflößten. Immer noch brennt mir der Zorn in den Adern, wenn ich daran auch nur denke: Wir haben den Wein von den Römern, das Bier von den Österreichern, Wodka von den Russen und Kaffee von den Türken – und so ist es mit allem. Wir besitzen nichts Eigenes. Nichts haben sie uns gelassen, zusammengeflickt haben wir das bisschen Ich, das man uns ließ, wie Frankensteins Monster bestehen wir aus europäischen Leichenteilen, modrig und stinkend.
Bah!
Ich entdeckte den Weg nur langsam, aber ich fand ihn. Beschritt ihn, obwohl ich barfuß ging und Scherben auf ihm lagen. Blut floss, Blut fließt heute und Blut wird fließen. Ich entdeckte meinen Gott und er heißt Anarchie. Herrscherlosigkeit. Meinethalben auch Terror. Der Mensch wird erst erwachen, wenn er Schmerz spürt. Wenn das stinkende Bett, in dem er liegt, in Flammen aufgeht. Ich werde den ersten Schritt machen, meine Fekete Sereg auf diesen Weg führen. Anarchie und Terror, Zerstörung und Angst. Ungarn muss atmen, muss erwachen und seine Monsterhaut abstreifen. Ungarn muss leben und sein aufgeblähtes Herz, das den Namen Budapest trägt, muss leiden.
Es gibt nur einen Weg. Den meinigen. Den Weg von Corvus, dem Raben, und seiner jungen Armee.
Auf in die Freiheit, Ungarn!
11
Montag, 8. August
11.00 Uhr, Polizeipräsidium, Teve utca
»Was haben Sie für mich?« Kommissar Frenyczek blickte jedem seiner Besucher in die Augen: Emil Meinrad, Professor Radelodz von der Universität, dem legendären Budapester Höhlentaucher Sándor Palotás und schließlich sogar Lena. Auch wenn er sie eher so anschaute, als gehörte sie nur dazu wie eine Art Haustier.
Keiner der vier riss sich um eine Antwort.
»Wir sind erst seit einer guten Woche hier«, erklärte Lenas Vater nach einem Räuspern. »Achtzig Prozent unserer Sensoren sind in der Höhle verteilt, den Zuleitungen Richtung Gellért-Bad galt unser besonderes Augenmerk. Erste Daten dürfen Sie in zwei, drei Tagen erwarten.«
»Vier«, warf Radelodz ein und fing wieder einmal damit an, seine Brille zu putzen. »Jedes einzelne Messgerät muss erst kalibriert werden. Und wer schnell arbeitet, arbeitet fehlerhaft.«
»Ja, ja.« Der Polizist setzte eine grimmige Miene auf. »Ich habe kapiert. Wie ist Ihre Einschätzung?«
»Dazu kann ich noch nichts sagen.« Radelodz zuckte andeutungsweise mit den Schultern. »Wissenschaft ist eben Kopf und nicht Bauch.«
»Ich fürchte, ich muss mich anschließen«, sagte Emil Meinrad.
»Und sie, Herr Palotás?«
»Ich?« Der Taucher blickte wütend in die Runde. »Ich halte das Ganze nach wie vor für Schwachsinn. Überlegen Sie doch mal: Sie wollen sämtliche Badegäste in einem Thermalbecken vergiften. Na gut, gehen wir mal davon aus, dass es so ein starkes Gift überhaupt gibt. Ich meine, immerhin reden wir von einer literweisen Verdünnung.«
»Gibt es«, sagten Kommissar Frenyczek und Professor Radelodz gleichzeitig.
»Meinetwegen.« Sándor ließ sich nicht beirren. »Warum verabreichen sie das Gift nicht direkt? Irgendwo im Keller, in der Pumpstation, meinetwegen direkt am Beckenrand. Alles andere klingt so … übertrieben kompliziert.«
Da ist was dran, überlegte Lena.
Die anderen waren nicht überzeugt.
»Kompliziert? Ja.« Frenyczek nickte und griff nach einem Becher mit dickflüssigem Kaffee, der Lena an die braune Donau erinnerte. »Aber übertrieben? Nein.«
»Sind Sie überhaupt sicher«, fragte Lenas Vater, »dass es eine echte Bedrohung gibt?«
»Was glauben Sie denn? Dass ich nur eine Quizrunde mit Ihnen abhalte? Meine Fragen sind so bitter wie dieser Automatenkaffee.«
Schweigen. Nur Lena grinste
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