Blutrotes Wasser
Dieser Hass, der von seinen schmalen Lippen tropfte, er kam Lena wie auswendig gelernt vor.
»Hast du die Blumenfrauen in den Straßen gesehen?«, fragte er zornig.
Sie nickte. Vor allem erinnerte sie sich an die alte Frau mit Trachtenrock und Kopftuch, die Lena zu ihrem Rucksack geführt hatte.
»Das findet ihr Touristen sicherlich schrecklich romantisch und, ja, pittoresk. Aber sie leben in Elend. Stehen den ganzen Tag am Eingang der Metro und versuchen …«
Lázlo brach ab. Schüttelte langsam den Kopf und sank in sich zusammen. »Entschuldige«, brachte er mühsam hervor. »Es tut mir leid. Aber das … quält mich.«
Und nicht nur das, hätte Lena am liebsten gesagt. Aber sie hielt die Klappe. Zum ersten Mal stand das Schweigen hässlich zwischen ihnen, nicht freundlich und warm, sondern wie eine Mauer mit Stacheldraht, Glasscherben und Selbstschussanlage.
»Verzeih mir«, sagte Lázlo schließlich und schaute sie an. Traurig, aber auch ängstlich. So als fürchtete er, Lena durch seinen Ausbruch verloren zu haben.
Süß, dachte sie geschmeichelt. »Du bist«, sagte sie, »da wohl ziemlich radikal, was?«
Er schüttelte den Kopf, sagte dann aber nachdenklich: »Vielleicht schon, ja.«
Lena blickte auf ihre Taucheruhr. »Ich muss gleich los.«
»Jetzt schon?« Immer noch blickte er so traurig, ängstlich und verlassen.
Bevor Lena antworten konnte, setzten Klavier und Geige ein: Auch hier oben auf der Fischerbastei wurde Zigeunermusik zelebriert. Lena lächelte, als ihr Imre Rutschek einfiel. »Kennst du den Old Man’s Club?«, fragte sie Lázlo. »Da gehe ich heut Abend hin. Wenn du Lust hast …«
Er nickte lächelnd. Stand auf und umarmte sie zum Abschied. Ganz vorsichtig, als bestände Lena aus dünnem Glas.
16.16 Uhr, an der Donau
Lázlo ging langsam am großen Strom entlang. Rechts von ihm floss die Donau, schleppte Ausflugsdampfer und Kohlenkutter auf ihrem spiegelnden Rücken und schlängelte sich doch träge weiter, unbekümmert, unberührt. Links begleitete ihn der Bem Rakpart, die breite Straße am Ufer, auf der zweispurig die Autos röhrten und ihren Dreck in die sommerschwüle Luft pumpten. Die Hitze zwang Lázlo zu langsamen Schritten. Seine Gedanken auch: Immer wieder ging er das Gespräch mit Lena durch. Fast hätte er es verbockt. Kaum anzunehmen, dass die verwöhnte Österreicherin mit einem politischen Rebellen der Fekete Sereg zu tun haben wollte. Aber war sie das, verwöhnt? Nur weil sie einen Vater hatte, mit dem sie sogar zusammenarbeitete? Nur weil ihre Mutter wahrscheinlich nicht ihr Leben mit Zigaretten und Fernseher verbrachte? Lázlo gestattete sich ein Lächeln: Bis zu seinem Ausrutscher hatte er seine Sache sehr gut gemacht. Eigentlich brachte er in Gesellschaft hübscher Mädchen kein vernünftiges Wort heraus, aber bei Lena war das leicht. Lag es an ihr? Oder lag es an seinem Auftrag, an seiner neuen Rolle als Soldat der Schwarzen Armee? Lázlo wusste es nicht. Etwas anderes schon: In ihm steckte mehr, als er gedacht hatte. Holló, der Rabe, hatte recht gehabt. Wie er immer recht hatte. Dieser Freund von Lázlos Vater war ein großartiger Mensch. Er hat mich gerettet, dachte Lázlo. Er hat mir den Weg gezeigt und die Zukunft. Lázlo starrte in die Donau. Nein, nicht schön blau. So wie das Leben nicht fröhlich und glücklich war, sondern braun und schmutzig. Und dennoch strömte die Donau und trotzdem atmete Lázlo.
Er schüttelte sich, machte träge einen Schritt nach dem anderen. Immer noch war er müde und erschöpft. Schaudernd dachte er an letzte Nacht. Er hatte zugetreten, wütend, brutal, so wie … ja, wie die Polizei bei den Demonstrationen. Als sein Vater starb. Als sich die Welt änderte. Das … konnte nicht gut sein, oder? Er musste Holló fragen. Ja, er würde ihn heute treffen, würde von Lena berichten und dann nach seinem Vater fragen, nach der Gewalt, nach dem Leben.
Lázlo schritt die Donau entlang und fieberte auf Antworten. Der Rabe würde sie ihm geben.
16.32 Uhr, Gellértberg,
Eingang zum Höhlensystem Molnár János
»Bist du sicher, dass du nicht noch ein bisschen warten willst?«, fragte Sándor Palotás. Er machte keinen Hehl aus seinem Unmut.
»Entweder gleich oder jetzt, sagt mein Vater immer«, gab Lena zurück.
»Wo ist der überhaupt, dein Herr Vater?«
»In der Uni mit Professor Radelodz. Deshalb bin ich ja hier.«
Sándor nickte verstehend. »Du willst es ohne ihn versuchen.«
»Nicht nur.« Lena spuckte in ihre
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